Zum Inhalt springen

Interviewte Person
Interviewee
Elisabeth Clarke

Interview, Transkription und Übersetzung
Interview, Transcription and Translation
Ricardo Viviani

Kamera
Camera
Sala Seddiki

Schnitt
Video editor
Vivien Mohamed

Lektorat
Proof reading
Anne-Kathrin Reif

© Pina Bausch Foundation

Inhaltsübersicht
    1. 1.1
      02:13
    2. 1.2
      06:27
    3. 1.3
      08:43
    4. 1.4
      12:09
  1. 16:01
    1. 2.1
      16:01
    2. 2.2
      19:39
    3. 2.3
      26:52
    4. 2.4
      28:30
    5. 2.5
      31:09
  2. 32:06
    1. 3.1
      32:06
    2. 3.2
      34:57
    3. 3.3
      35:35
    4. 3.4
      43:43
    5. 3.5
      46:18
  3. Kapitel 4
    Asientournee
    49:53
    1. 4.1
      49:53
    2. 4.2
      53:05
    3. 4.3
      57:09
  4. 58:51
    1. 5.1
      58:51
    2. 5.2
      01:11:34
  5. Kapitel 6
    Tanzerbe
    01:20:11
    1. 6.1
      01:20:11
    2. 6.2
      01:23:14
    3. 6.3
      01:31:53
    4. 6.4
      01:35:46

Interview mit Elisabeth Clarke, 4.6.2023

In diesem Interview erzählt Elisabeth Clarke von ihrem Werdegang im Tanz: Angefangen in ihrer Kindheit in Philadelphia, über ihre Zeit bei Maurice Béjart und ihre Zusammenarbeit mit dem berühmten Komponisten Karlheinz Stockhausen. Ihre erste Begegnung mit Pina Bauschs Arbeit war ein echter Wendepunkt; sie war beeindruckt von den rohen, intensiven und emotionalen Aufführungen. Elisabeth Clarke erinnert sich daran, wie international und multikulturell das Ensemble war und wie diese Vielfalt die Arbeit beeinflusste, besonders bei Stücken wie „Das Frühlingsopfer“. Hier brachte ihr afrikanisches Erbe eine einzigartige Sichtweise auf die rhythmischen und körperlichen Aspekte der Choreografie ein. Sie beschreibt ihre Zeit am Tanztheater Wuppertal als eine Gelegenheit, die Schönheit und die Kämpfe im Leben gewöhnlicher Menschen zu erkennen und die Welt mit einem „liebenden Auge“ zu betrachten.

Interviewte PersonElisabeth Clarke
Interviewer:inRicardo Viviani
KameraSala Seddiki

Permalink:
https://archives.pinabausch.org/id/20230604_83_0001


Inhaltsübersicht

1

Ricardo Viviani:

Welche Erinnerungen hast du an diesen Raum? Hat er sich verändert? Wie war es, als du das erste Mal hier warst?

Elisabeth Clarke:

Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich hierhergekommen bin. Ich war sehr geschockt, weil es so dunkel und so schmuddelig war. Und ich dachte, wie können wir in diesem Raum etwas erschaffen, wenn wir uns kaum sehen können? Irgendwie haben wir uns daran gewöhnt, und es war wunderbar, einen Raum zu haben, der fast so groß war wie die Bühne, in dem wir kreieren konnten. Und wie ist es jetzt? Es ist, als wäre es genau das Gleiche wie damals. Es ist wirklich genau dasselbe. Es ist wie eine Zeitreise.

Ricardo Viviani:

Gehen wir also in der Zeit zurück – wie bist du zum Tanzen gekommen?

Kapitel 1.1

Philadelphia
2:13

Elisabeth Clarke:

Ich war in Philadelphia, als ich anfing zu tanzen. Ich war ein sehr lebhaftes kleines Mädchen. Wann immer ich Musik hörte, fing ich an zu tanzen. Meine Mutter hörte gern klassische Musik, und ich sprang dazu herum, drehte mich, tanzte und warf Dinge um. Irgendwann fragte sie mich: „Möchtest du Tanzunterricht nehmen?“ Und ich sagte: „Oh, ja“. Dann fing ich an, Tanzunterricht für Kinder zu nehmen. Es war sehr kreativ, ich hatte eine wunderbare Lehrerin. Ich glaube, sie war dafür verantwortlich, dass ich mit dem Tanzen weitergemacht habe, weil sie viel mit Fantasie und unseren Sinnen gearbeitet hat und sie in Bewegung übersetzt hat. Das war, als ich vier oder fünf Jahre alt war. Das war also eine Art Paradies, und ich machte weiter. Später fing ich an, richtigen Ballettunterricht zu nehmen. Ich möchte dir davon erzählen, denn als kleines Mädchen in Philadelphia, und besonders als kleines schwarzes Mädchen, war Ballett so weit entfernt von allem, was wir kannten. Meine Mutter suchte jemanden, der Ballett unterrichtete, und sie fand eine alte Russin, die in einem kleinen Studio, das über eine Treppe zu erreichen war, Ballettstunden gab.

Elisabeth Clarke:

Und ich erinnere mich, dass ich da reingegangen bin und meine Ballettkleidung angezogen habe und an der Barre gestanden habe. Diese Frau war ganz anders als alle Menschen, die ich je zuvor gesehen hatte. In meiner Erfahrung war sie jemand völlig Neues: eine alte Russin! Ich war wirklich fasziniert und ein bisschen ängstlich. Da habe ich angefangen, richtigen Ballettunterricht zu nehmen. Sie war sehr streng: Es gab einen richtigen und einen falschen Weg. Wir durften nicht sprechen oder sie unterbrechen. Ich war wirklich fasziniert, denn das war etwas völlig anderes als alles, was ich bisher kannte. Im Ballettunterricht war ich in einer Welt, die mir gehörte. Im Gegensatz zu allem, was ich zu Hause oder in meiner Nachbarschaft hatte. Es war mein ganz besonderes Ding. Deshalb habe ich es so geliebt. Ich fand es toll, dass es klar und streng war. Ballett hat mich wirklich fasziniert, und ich habe einfach weitergemacht. Ich erinnere mich, dass, wenn ich diese kleinen Stufen hochging, ich in einer anderen Welt war, eine, die ich bevorzugte.

Ricardo Viviani:

Gab es Aufführungsmöglichkeiten? Gab es Jahresend-Auftritte?

Elisabeth Clarke:

Nein, das hat sie nicht gemacht. Die Lehrerin, den ich zuvor hatte, hat zum Jahresende Aufführungen gemacht. Aber diese Frau hat das nicht getan.

Ricardo Viviani:

Was kam danach?

Elisabeth Clarke:

Als ich etwa acht oder neun Jahre alt war, nahm mich meine Mutter mit zu einer Aufführung des Pennsylvania Ballet. Es war die erste Ballettaufführung, die ich gesehen habe, und sie spielten Carmina Burana. Carmina Burana ist keine Musik, die ein kleines Kind ansprechen würde, aber ich war fasziniert. Ich war total fasziniert. Ich habe zugeschaut und dachte: Das ist es! Das werde ich tun. Ich habe mich entschieden, das werde ich tun. Ich werde Tänzerin. Auf die Bühne gehen und solche Sachen machen. Also habe ich mich an der School of the Pennsylvania Ballet eingeschrieben. Von da an nahmen die Dinge einfach ihren Lauf. Ich erhielt ein Stipendium der Ford Foundation und konnte so viele Ballettkurse besuchen, wie ich wollte. Als ich dreizehn war, ging ich nach North Carolina, an die North Carolina School of the Arts, danach kam ich zurück nach Philadelphia. Als ich 15 war, bin ich nach New York an die School of American Ballet gegangen. Dann, mit 17, war ich mit der High School fertig. In diesem Jahr kam Maurice Béjart für seine erste Tournee in den Vereinigten Staaten nach New York. Meine Mutter erzählte mir, dass er für seine Schule ein Vortanzen abhalten würden. Sie sagte: „Vielleicht willst du dahingehen, weil sie schauspielern und tanzen und so."

Kapitel 1.3

Maurice Béjart
8:43

Elisabeth Clarke:

Am Tag des Vortanzens wollte ich mit meiner Freundin Jodie ins Kino gehen, und ich habe sie angerufen, aber sie war nicht zu Hause. Ich dachte: „Oh, was soll ich machen? Oh ja, da ist das Vortanzen. Nun, ich denke, ich könnte genauso gut hingehen.“ Also bin ich hingegangen. Es sollte in einem Studio sein, aber es waren viel zu viele Leute da, also haben sie es in das Theater verlegt, in dem sie auftraten. Also stiegen all diese Leute in die U-Bahn und fuhren nach Brooklyn. Es war an der Brooklyn Academy. Da waren ungefähr 500 Leute bei dieser Audition. Als ich reinkam, dachte ich: „Okay, New York, 500 Leute, mindestens 300 Leute sind mit Sicherheit viel bessere Tänzer als ich, also eigentlich habe ich keine Chance.“ Also war ich wirklich entspannt. Es stellte sich heraus, dass wir zuerst eine klassische Stange machen würden und dann etwas zeitgenössischen, etwas modernen Tanz machen sollten.

Elisabeth Clarke:

Die Frau, die den modernen Teil unterrichten sollte, war jemand von der Schule, an der ich war, als ich noch sehr klein war. Also wusste ich genau, was sie tun würde. Ich kannte die Technik. Es war Horton-Technik. Ich habe das sehr locker mitgemacht, und dann sind wir zurückgekommen und haben etwas Klassischeres gemacht, dann etwas Moderneres. Stunden und Stunden waren vergangen. Leute von der Kompanie saßen herum und sahen sich das an. Maurice Béjart sagte zu uns: „Jetzt möchte ich, dass jeder von Ihnen eine einminütige Solo-Improvisation macht, um uns zu zeigen, wer Sie sind.“ Das war für viele Ballettleute sehr schwierig, weil sie nicht improvisieren, aber ich bin in dieser Schule aufgewachsen, wo wir improvisiert haben. Also dachte ich: „Oh, das kann ich!“ Ich habe keine Ahnung, was ich gemacht habe; ich weiß, dass ich viele Sprünge gemacht und viel Platz genutzt habe. Das ist alles, an was ich mich erinnere. Die Leute waren sehr beeindruckt, auch Mr. Béjart. Also wurde ich in die Schule von Mudra aufgenommen. Anstatt zur Universität zu gehen, ging ich nach Mudra. Das war der Beginn meines Lebens in Europa, mit 17.

Ricardo Viviani:

Das ist das erste Mal, dass jemand die Mudra-Schule erwähnt. Um das in einen Zusammenhang zu bringen, was wurde dort unterrichtet? Maurice Béjart war zu dieser Zeit ein treibender Innovator im Ballett.

Kapitel 1.4

Mudra Schule
12:09

Elisabeth Clarke:

Als Maurice Béjart in New York war, war es unglaublich. Es war eine Kontroverse. In den Zeitungen wurde darüber kontrovers diskutiert. Ist das Ballett? Ist das gut? Können wir es akzeptieren? New York war an das New York City Ballet und am Mr. Balanchine gewöhnt. Dann kam diese Person aus Europa mit einer so wilden, für New Yorker Geschmack wirklich wilden Art der Choreografie und des Tanzes. Die Männern eine Position in den Balletten gab, an die in New York niemand gewöhnt war. Für mich als 17-jähriges Mädchen war es faszinierend, all diese unglaublich schönen, starken Männer tanzen zu sehen, ich war begeistert. Die Mudra-Schule war genauso. Es war eine verrückte Idee, wir hatten Unterricht in klassischem Ballett und modernem Tanz, Gesang, Schauspiel, Yoga, Flamenco und Improvisation. Es begann morgens um neun Uhr und wir waren normalerweise bis etwa sechs Uhr abends dort: Unterricht den ganzen Tag. Aufgrund einiger Zuschüsse war es gebührenfrei. Einer unserer größten Unterstützer war die Gulbenkian Foundation. Wir haben viele Trainingsstunden bekommen. Wir experimentierten mit verschiedenen Arten, Theater zu machen. Zu sprechen, während wir tanzten, und so weiter. Es war ein Ort extremer künstlerischer Freiheit. Es kamen Menschen von überall her: überall aus Europa und den Vereinigten Staaten, aus allen verschiedenen Ländern, mit vielen verschiedenen Sprachen. Es war fantastisch, und es war ein großes Privileg, auf diese Schule zu gehen.

Elisabeth Clarke:

Die Leute, die aus Mudra kamen, haben fantastische Dinge gemacht. Im ersten Jahr von Mudra wurde eine Kompanie namens Chandra gegründet, die nicht sehr lange existierte, nach und nach fingen die Leute an, sich zu lösen und eigene Dinge zu tun. Maguy Marin gründete ihre eigene Kompanie und wurde eine der führenden Choreografinnen Frankreichs. Und Juliana Carneiro da Cunha ging mit Ariane Mnouchkine ins Théâtre du Soleil. Da war Alain Louafi, der viel mit der Kompanie gemacht hat, aber gleichzeitig mit mir auch angefangen hat, mit Karlheinz Stockhausen zu arbeiten. Das war etwas ganz Besonderes. Die Leute von Mudra leisteten also bahnbrechende Arbeit, wohin sie auch gingen.

2

16:01

Ricardo Viviani:

Welches Jahr war das? Und erzähl uns von der nächsten Arbeit, die du gemacht hast, war es mit Karlheinz Stockhausen?

Elisabeth Clarke:

Ich trat 1971 in Mudra ein. Und es war ein dreijähriges Programm, aber im dritten Jahr verletzte ich mich wirklich schwer am Rücken. Also, ich konnte keinen Unterricht nehmen, und Mr. Béjart kam zu mir und sagte: „Was machst du nächsten Monat?“ Und ich sagte: „Nun, Maurice, ich mache eigentlich gar nichts.“ Und er sagte: „Könntest du nach Deutschland gehen? Weil, Herr Stockhausen hat ein Stück geschrieben, und es ist ein Stück mit Bewegung. Er wollte eigentlich, dass ich es mache, aber ich kann nicht. Also habe ich ihn gefragt, ob ich ihm ein paar meiner Schüler schicken könnte.“ Also hat er Alain Louafi und mich geschickt. Wir gingen zu Stockhausens Haus und trafen ihn. Zuallererst muss ich sagen, dass Maurice Béjart wirklich mein Mentor und mein Meister für alles war, was mit einem tiefen persönlichen Gefühl von Selbst, Geist und Kunst zu tun hat. Dann ging ich zu Herrn Stockhausen, der auch eine Art hatte, Spiritualität und Kunst zu verbinden, aber er war völlig anders als Maurice Béjart. Ich habe immer wieder Leute getroffen, die so einzigartig waren, und Herr Stockhausen war auch ziemlich einzigartig. Auf der einen Seite war er ein Komponist mit dem Kopf in den Sphären, und auf der anderen Seite war er ein sehr bodenständiger Deutscher. Manchmal war es ein bisschen verwirrend, mit ihm zu arbeiten. Sein Ding war Präzision. Also, das war 1974, ich kam nach Deutschland und fing an, mit Stockhausen zu arbeiten. Von Maurice Béjart habe ich gelernt, offen zu sein, völlig offen für alle künstlerischen Ideen, und von Stockhausen habe ich gelernt, dass man diese Ideen klar und präzise ausdrücken muss. Dies war also ein weiterer Schritt in dieser Universität der künstlerischen Entwicklung.

Ricardo Viviani:

Also, hier sind wir im Jahr 1974. Wie lange hat diese Arbeit gedauert, und wie bist du mit der Arbeit von Pina Bausch in Kontakt gekommen, bis du schließlich in die Kompanie kamst?

Kapitel 2.2

Pina Bausch
19:39

Elisabeth Clarke:

Wir haben 1974 angefangen, und ich habe die nächsten sechzehn Jahre mit Karlheinz Stockhausen zusammengearbeitet, hin und wieder. Während ich dort war, lernte ich meinen damaligen Freund kennen. Er lebte in Köln und sagte mir: „Um die Ecke von mir ist eine Kneipe, und die Frau, die sie mit ihrem Mann betreibt, ist Tänzerin, und vielleicht möchtest du in diese Kneipe gehen und mit ihnen reden.“ Als ich dort war, stellte ich fest, dass sie eine Tänzerin von Pennsylvania Ballet war, die ich als Kind kannte. Wir kamen ins Gespräch, und sie sagte zu mir: „Weißt du, da ist diese Frau in Wuppertal, du solltest dorthin gehen, weil ich denke, ihr beide könntet vielleicht gut miteinander auskommen. So habe ich nachgeschaut, wann Züge von Köln nach Wuppertal fuhren. Ich bin einfach hingefahren. Ich habe nicht angerufen, es gab kein Casting, ich habe einfach gefragt: „Kann ich heute mit der Kompanie trainieren?“ „Ja, das kannst du.“ Pina war vormittags nicht da, ich nahm am Unterricht teil, und dann fingen Leute aus der Kompanie an, mich anzusprechen, besonders Vivienne Newport, Marlis Alt und Jo Ann Endicott. Vivienne sagte: „Warum kommst du heute nicht zum Mittagessen zu mir nach Hause.“ Also ging ich zum Mittagessen zu ihr nach Hause. In der Zwischenzeit hatte Jo Ann Pina Bausch angerufen und gesagt: „Schau, da ist dieses wirklich interessante Mädchen hier. Vielleicht solltest du rüberkommen und sie treffen.“ Also gingen wir am Nachmittag zurück ins Theater. Pina hat alle nach Hause geschickt und drei Stunden alleine mit mir gearbeitet. So ist das gewesen.

Ricardo Viviani:

Zu diesem Zeitpunkt hattest du Pina Bauschs Arbeit also noch nicht gesehen?

Elisabeth Clarke:

Nein, zu diesem Zeitpunkt hatte ich die Arbeit noch nicht gesehen. Danach, als sie sagte, sie wäre sehr daran interessiert, dass ich der Kompanie beitrete, ging ich zu einer Aufführung. Ich glaube, es war der nächste Abend, und es war der Strawinsky-Abend. Als ich "Sacre" sah, saß ich auf dem Balkon in der ersten Reihe, und wenn dieses Stück zwei Minuten länger gedauert hätte, wäre ich vom Balkon gefallen. Es hat mich so angezogen und so bewegt. Es gab auch das Stück "Cantata" [Wind von West], und ich fand es das Schönste, was ich je gesehen hatte. Ich dachte, wenn ich das könnte, dann hätte ich alles getan, was ich als Tänzer tun muss, denn es gibt nichts Schöneres als das. Ich war also sehr gerührt und bewegt von der Arbeit vom ersten Moment an.

Ricardo Viviani:

Du hast mit Pina Bausch drei Stunden lang gearbeitet, und sie hat dich zur Kompanie eingeladen. Was ist danach passiert?

Elisabeth Clarke:

Oh, das war irgendwie lustig. Sie lud mich am nächsten Tag wieder ein, schaute sich den Unterricht an und sagte: „Komm mit mir zum Mittagessen.“ Also gingen wir zusammen zum Mittagessen und unterhielten uns. Wir haben geredet und geredet und geredet. Es war sehr lustig. Ich erinnere mich besonders an eines aus diesem Gespräch. Wir haben über alles Mögliche gesprochen, und sehr oft habe ich gelacht. Pina fragte mich: „Warum lachst du so viel? Ich glaube, du verstehst das Leben nicht. Wenn du das Leben besser verstehen würdest, würdest du nicht so viel lachen.“ Darauf sagte ich: „Oh Pina, ich verstehe das Leben schon, aber ich verstehe einfach andere Dinge als du verstehst.“ Wenn ich auf die Arbeit in dieser Zeit zurückblicke, dann war sie geprägt von einem Verständnis davon, dass hinter dem Anschein einer Ordnung, hinter tiefgehenden Konventionen Dinge steckten, über die wir nicht wirklich sprechen wollten. Ich meine nicht wir in der Kompanie, sondern wir als Gesellschaft wollten nicht wirklich darüber sprechen.

Elisabeth Clarke:

Die Art von Grausamkeit, die wir uns selbst und aus dieser Frustration heraus einander zufügen. Pina war in der Lage, das zum Vorschein zu bringen, indem sie sich nur ansah, was die Leute tatsächlich tun. Es war bereichernd, sich mit diesen Dingen zu auseinanderzusetzen. Ich kann jetzt verstehen, was sie meinte mit „wenn du verstehen würdest, würdest du nicht so viel lachen“. Besonders als wir "Blaubart" kreiert haben. [Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper „Herzog Blaubarts Burg“]. Daran ist nichts Witziges, ich meine, alles, was in dem Stück vorkommt, ist wahr. So gehen wir miteinander um, besonders in Beziehungen, in engen Beziehungen, in Paarbeziehungen. Damals habe ich das definitiv nicht verstanden.

26:52

Ricardo Viviani:

In der Spielzeit 1975/76 entstanden die Stücke Die sieben Todsünden und "Songs" [Fürchtet Euch nicht ], die zwei Stücke sind, die sich mit Missbrauch befassen. In der darauffolgenden Spielzeit haben wir „Blaubart“, wie du schon erwähnt hast, und Kommt tanz mit mir, wo es auch jede Menge Missbrauch gibt. Fangen wir mit Die sieben Todsünden an. Du bist wegen dieser Produktion in die Kompanie gekommen. Wie war dieser Prozess?

Elisabeth Clarke:

Nun, es war interessant, weil wir auch mit externen Leuten zusammengearbeitet haben. Der Prozess war zu diesem Zeitpunkt noch ein gewöhnlicher Prozess: Pina Bausch zeigte uns die Bewegungen, und wir haben die Choreografie gelernt. An einigen Stellen gab etwas mehr Freiheit, aber in Die sieben Todsünden nicht sehr viel.

28:30

Elisabeth Clarke:

Aber in dem anderen Teil Fürchtet Euch nicht gab es mehr Raum für Individualität. Wie zum Beispiel die Szene mit den Puppen: Sie erklärte uns: „Ihr werdet Puppen sein, und sie wird euch manipulieren.“ Da hatten wir die Freiheit, zu entscheiden, wie diese Puppen sein würden. Was für Puppen wir sind, und wie die Bewegungen aussehen würden. Sonst zeigte sie die Bewegung, und wir lernten die Choreografie. Und wir mussten singen, nicht viel, weil andere Darsteller kamem, um diese Lieder von Bertold Brecht und Kurt Weill zu singen. Trotzdem mussten wir ein bisschen singen, und ich dachte: „Nun, cool. Weißt du, Tänzer können ihren Mund öffnen und Töne ausgeben.“ Dieser Prozess war immer noch ungewöhnlich für Tänzer.

Ricardo Viviani:

Das Bühnenbild und die Kostüme haben einige Besonderheiten. Erinnerst du dich daran?

Elisabeth Clarke:

Ja, das Bühnenbild war wie eine Straße. Sie [Rolf Borzik und Team] haben einen Abdruck von einer Straße in Wuppertal gemacht, ich weiß nicht welche Straße, um das Bühnenbild zu machen. Das Bühnenbild von Die sieben Todsünden war also eigentlich eine Wuppertaler Straße. Die Kostüme waren Männeranzüge, sehr eng, einschränkend. Wunderbar ist die Tatsache, dass die Kostüme dieselbe Geschichte erzählten.

Ricardo Viviani:

Jetzt bist du in Wuppertal und lebst in Deutschland. Zu diesem Zeitpunkt warst du fünf, sechs Jahre von Philadelphia weg. Spielte da Heimweh eine Rolle?

Elisabeth Clarke:

Niemals. Ich habe nie zurückgeschaut. Ich war froh, weg von den Vereinigten Staaten zu sein. Ich habe mich besonders gefreut, diese großartigen Künstlerpersönlichkeiten kennenzulernen. Ich meine, du musst dir vorstellen, von Maurice Béjart zu Karlheinz Stockhausen zu Pina Bausch zu gehen. Mein Gefühl war, dass mir das in den Vereinigten Staaten niemals passieren könnte. Also hatte ich nie Heimweh.

3

Kapitel 3.1

Wind von West
32:06

Ricardo Viviani:

Also, in der nächsten Spielzeit musstest du wahrscheinlich das Stück "Cantata" [Wind von West] und auch Das Frühlingsopfer lernen. In der Betrachtung deiner Ausbildung im Tanz, wie war es, diese Bewegungen zu lernen? Gab es etwas Herausforderndes, oder war es nur die tägliche Arbeit eines Tänzers? Wie war diese Erfahrung für dich?

Elisabeth Clarke:

"Cantata" war etwas, das meinem Körper irgendwie vertraut war, aber Das Frühligsopfer war etwas, was ich noch nie gemacht hatte. Um Das Frühligsopfer zu lernen, habe ich den Vorteil, dieses afrikanische Erbe zu haben. Zumindest die rhythmischen Strukturen fielen mir leicht, aber die Bewegungen waren wirklich schwierig. Die Schwierigkeit lag darin, dass ich keinen so geschmeidigen Körper habe, und dafür muss man wirklich geschmeidig sein. Was mir an Flexibilität fehlte, hatte ich wohl an Kraft und rhythmischem Verständnis gehabt. Aber Das Frühligsopfer war wirklich hart. Ich erinnere mich an das erste Mal, als wir auf die Bühne gingen – da waren ein paar neue Leute in der Gruppe, für die es auch das erste mal war: Mari Di Lena, ich und ein paar andere – und ich war mir sicher, dass ich es nicht überleben würde. Ich war mir sicher, dass ich mein Leben dort auf dieser Bühne lassen würde. Als es vorbei war und ich noch am Leben war, war ich überrascht. Ich war wirklich überrascht. Was ich an Das Frühligsopfer liebe, ist, dass es genau ist, was du siehst. Du siehst, wie die Leute erschöpft werden. Du siehst Leute fallen und sich schmutzig machen. Wir mussten nichts produzieren. Alles, was du tun musst, ist diese Bewegung zu machen, so wie sie choreografiert ist, und alles andere geschieht auf eine natürliche Weise. Es war das erste Stück, das ich je gesehen habe, wo alles eins zu eins war. Es war nichts "Gemachtes" daran.

34:57

Ricardo Viviani:

Du hast dieses afrikanische Erbe im Zusammenhang mit Das Frühligsopfer erwähnt. Wir haben aktuell eine Das Frühligsopfer Kompanie mit Künstlern vom afrikanischen Kontinent. Kannst du etwas näher auf diese Beziehung zwischen afrikanischem Erbe und Das Frühligsopfer eingehen?

35:35

Elisabeth Clarke:

Ich werde mich hier aus dem Fenster lehnen. Jedesmal wenn ich auf dem afrikanischen Kontinent war, spüre ich durch den Boden, durch meine Füße und durch meinen Körper eine andere Energie. Es ist sofort da, es kommt aus der Mitte des Körpers. Es ist nicht genau emotional, aber es ist eine Energie, die mit dem Boden, der Erde, der Luft, den Pflanzen zu tun hat, sogar in der Wüste, in der Stille, im Raum. Das habe ich jedes Mal gespürt, wenn ich nach Afrika gegangen bin. Das Frühligsopfer macht das Gleiche mit mir. Es ist dezidiert nicht im Kopf. Der europäische Tanz war und ist immer noch sehr im Kopf. Du hast eine Idee, und dann musst du einen Weg finden, diese Idee in eine Form zu bringen. Es ist wie das, was ich über Karlheinz Stockhausen gesagt habe. Afrikanischer Tanz entsteht nicht aus einer Idee. Es kommt aus einer Erfahrung. Du erlebst die Welt um dich herum, und der Tanz entsteht daraus. Nun, ich bin nicht in Afrika aufgewachsen. Es gibt jedoch bestimmte Sachen, die innerhalb des schwarzen Vermächtnisses weitergegeben werden.

Elisabeth Clarke:

Aus der Zeit, in der man von zu Hause weggerissen wurde und dem damit verbundenen Leid. Es gab auch immer diese unausgesprochene und untheoretische Art, Sachen zu übermitteln. Mit der Erde in Kontakt zu sein, wurde immer weitergegeben, das sage ich ganz nachdrücklich. Oder diese Art von Bewegung (zeigt) wird weitergegeben. Es gibt in dem Vermächtnis und in einer Herangehensweise an künstlerischen Ausdruck etwas innig Afrikanisches an sich. Und jetzt ist es in der Diaspora, weil es so viel Kommunikation gegeben hat und es so viel Fortpflanzung zwischen den Völkern gegeben hat, dass dieses Wissen jetzt diasporanisch ist. Es ist sehr spezifisch. Wenn ich in Afrika bin und mit Menschen von diesem Kontinent tanze, dann haben wir ganz bestimmte Gemeinsamkeiten. Aber weil ich auch eine europäische Tanztradition habe, bringe ich weitere Elemente ein, die keine Elemente des afrikanischen Tanzes sind. Dieses Geben und Nehmen macht den Ausdruck der Diaspora aus. Das war also mein Vorteil in Das Frühligsopfer. Der starke Rhythmus und im wahrsten Sinne des Wortes: die Erde sind etwas, das ein europäisches Kind nicht unbedingt erleben wird.

Elisabeth Clarke:

Es gibt etwas sehr Bemerkenswertes an Das Frühligsopfer im Hinblick auf das afrikanische Erbe, über das ich gesprochen habe: Wie ist Pina Bausch dazu gekommen? Ich fand das wirklich interessant, weil ihre Art, sich zu bewegen wirklich den Bewegungen des afrikanischen Kontinents ähnelte. Ich war fasziniert, weil sie das nicht hätte können sollen, aber sie konnte es. Was für mich bedeutete, dass sie mit etwas Universellem in Kontakt war, und sie erlaubte sich, es zu tun. Ich habe einige Videos der Das Frühligsopfer Kompanie von École des Sables gesehen und dachte: „Nun, so hätte Das Frühligsopfer die ganze Zeit sein sollen.“ Es hat so eine Nähe zu ihrer körperlichen Tradition. Zugegeben, gewisse Sachen sind anders. Für mich ist es wie Strawinsky es geschrieben hat, und wie das Stück gemeint war. Ich sah diese Videos an und dachte „so hätte es von Anfang an sein sollen.“ Tatsächlich spielt es keine Rolle – wenn du diesen Kontakt zur universellen Erfahrung der Welt durch die Erde, den Himmel und den Klang der Wellen findest und dich vom Intellekt lösen kannst – was passiert, während du das tanzt – dann ist es egal, wer das tanzt. Und das ist wunderschön.

Ricardo Viviani:

Der Strawinsky-Abend besteht aus drei Stücken mit jeweils sehr unterschiedlichem Charakter. Ich würde das gerne in die damalige Zusammensetzung der Kompanie als multi-ethnische Gruppe einbeziehen. Erinnerst du dich an deine Kollegen und wie das die Arbeit beeinflussen würde? Stücke wie "Cantata" [Wind von West], eine Theaterszene wie in Der zweite Frühling, so abwechslungsreiche Stücke bilden diesen Abend. Hast du vor diesem Hintergrund ein paar Gedanken dazu?

43:43

Elisabeth Clarke:

Wir waren Tänzer, die mit Pina Bausch zusammengearbeitet haben. Pina ist sehr deutsch, daher werden einige der Einflüsse sehr sehr deutsch sein. "Cantata" erzählt die Geschichte von Elisabeth aus Ungarn, die unerlaubt den Armen Brot gab. Sie versteckte ihren Korb unter ihrem Kleid, und als sie gefragt wurde, was trägst du da, sagte sie, ich trage Rosen, und so hoben sie ihren Rock hoch, und aus dem Brot waren Rosen geworden. Dies ist die Geschichte der Elisabeth von Thüringen. Diese Art von historischer religiöser Geschichte speiste "Cantata"*. Es ist eine Legende. Wie sich die Hände am Beginn des Stücks bewegen ähnelt mittelalterlichen Gemälden, diese Art von Bewegung oder Position der Hände (zeigt). Vieles davon war wie auf Gemälde aus dem Mittelalter. Dieser Tanz ist sehr legato und wirklich fließend die ganze Zeit. Er hinterließ auch einen kleinen Hauch von Melancholie. Immer noch ein sehr schönes Stück. Ich bin wirklich froh, dass ich das machen durfte.

46:18

Elisabeth Clarke:

Um Der zweite Frühling wirklich zu verstehen, musstest du tatsächlich aus einer bestimmten Zeit und einer bestimmten bürgerlichen Schicht in Deutschland stammen. Diese Sache mit dem Kissen (zeigt), ein Schlag, damit das Kissen einen Knick hat, erklärte uns Pina: „So haben das die Leute in ihren Wohnzimmern gemacht. Wenn du einen ordentlichen Haushalt führtest, dann hatte dein Kissen immer diesen Knick in der Mitte“. Wir waren multi-ethnisch, aber wir lebten alle in Deutschland, in Wuppertal. Wuppertal war zu dieser Zeit wirklich ein kleinbürgerlicher Ort. Ein Großteil der Bevölkerung war sehr alt, sehr engstirnig mit einem sehr engen Horizont. Dort kam auch sie her, davon distanzierte sie sich, aber da kam sie her. Diese verrückte, multi-ethnische, multinationale Gruppe von Menschen versuchte also, sich irgendwie in Wuppertal einzufügen, vergeblich. Wenn du eine Wohnung bekommen wolltest, musstest du mit diesen Leuten kommunizieren, also gab es Reibungen. Was die Seele von Das Frühligsopfer ist, habe ich bereits erklärt. Alles das hat mit Pinas Erfahrung zu tun, aber es hatte auch mit unserer Erfahrung zu tun. Deshalb ist Der zweite Frühling so amüsant: Das liegt daran, dass dieser Kleinbürger versuchte, die Welt vorhersehbar zu machen, und wenn du die Welt vorhersehbar machen willst, musst du sie klein machen. Wir alle hatten auf die eine oder andere Weise dieses Gefühl erlebt, aber bestimmte Dinge waren spezifisch deutsch.

Ricardo Viviani:

War es eine Herausforderung, von Wind von West zu Der zweite Frühling und zu Das Frühlingsopfer umzuschalten?

Elisabeth Clarke:

Nein, weil sie so unterschiedlich waren, dass du von einem zum anderen einfach in ein anderes Universum wechseln konntest. Wären sie sich ein bisschen ähnlicher gewesen, wäre es eine größere Herausforderung gewesen, aber das war, als würde man Französisch, Englisch oder Deutsch sprechen.

4

Kapitel 4.1

Eine andere Welt
49:53

Ricardo Viviani:

Die Kompanie wurde in den späten Siebzigern internationaler: von dem Besuch zu dem Festival in Nancy an bis zu Tourneen, die vom Goethe-Institut gesponsert wurden. Eine besondere war die Asientournee. Hast du Erinnerungen daran?

Elisabeth Clarke:

Ich habe solche Erinnerungen. Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Länder besuchen könnte. Es war unglaublich für mich, für uns alle. Haben wir in Neu-Delhi angefangen? Ja, ich glaube schon. Bereits auf der Busfahrt zwischen dem Flughafen und dem Hotel, war es, als ob wir nicht in einem anderen Land oder Kontinent waren, sondern in einer anderen Welt, wirklich in einer anderen Welt. Für viele Kollegen, nicht für alle, aber für viele, war es das erste Mal, dass sie extreme Armut sahen. Das hat uns alle erschüttert, auch diejenigen von uns, die so etwas schon mal erlebt hatten, aber nie in diesem Ausmaß. Also, damit haben wir diese Tour begonnen. Wir begannen die Tour mit dem Schock, in einer völlig anderen Umgebung zu sein, und das war erst der erste Tag, und wir waren weitere sechs Wochen dort. Ich habe viele Bilder im Kopf. Ich erinnere mich, wie wir in Sri Lanka mit einem Bus fuhren, vielleicht vom Flughafen, und ich weiß noch, wie ich jemanden gesehen habe und dachte: Das ist das perfekteste Bild eines Menschen, das ich je gesehen habe. Die Person stand gerade in einem Garten, hatte ein großes Gefäß und goss Wasser über ihren Kopf. Nur diese Position (zeigt), ich habe nicht einmal das Gesicht dieses Mannes gesehen. Ich dachte: „Das ist perfekt, das ist es, wie Menschen sind.“

Kapitel 4.2

Kulturschock
53:05

Elisabeth Clarke:

Oder ich erinnere mich daran, wie ich mit Arthur Rosenfeld in Hongkong die Straße entlang ging, und er sagte er zu mir: „Weißt du, hier ist es irgendwie wie New York, nur dass alle Chinesen sind.“ Ich erinnere mich, wie ich auf einer Schlangenfarm zum ersten Mal sah, wie eine Schlange ihre Haut abwirft. Jemand erklärte uns, was es bedeutet, wenn eine Schlange ihre Haut abwirft. Ich erinnere mich, dass ich auf einer Bühne für traditionellen thailändischen Tanz in Bangkok war, und diese Bühne hatte zwei Ebenen. So mussten wir sehr vorsichtig sein, weil plötzlich in der Mitte der Bühne eine Stufe nach unten war. Ich erinnere mich an so viele Dinge von dieser Tour, und wie uns das näher zusammengebracht hat. Die letzte oder vorletzte Aufführung fand in Kalkutta statt, und es war Das Frühlingsopfer. Während wir Das Frühlingsopfer tanzten, wurde das Publikum richtig aufgeregt, sehr aufgeregt, sie fingen an, ihre Plätze zu verlassen. Die Leute verließen ihre Sitze und kamen nach vorne zur Bühne und schrien, es fühlte sich sehr bedrohlich an. Da waren Leute vorne an der Bühne, die laut gerufen haben, und du dachtest, sie würden auf die Bühne klettern, um uns davon abzuhalten, dieses junge Mädchen zu foltern. Irgendwann hat man plötzlich einfach das Licht ausgemacht, was vielleicht nicht die klügste Idee war, aber wir sind von der Bühne gerannt. Viele von uns waren mitgenommen, einige mussten Beruhigungsmittel nehmen. Diese Aufführung war, wie ich vorher erklärt habe, eins zu eins. Das erlebte ich nur in dieser Kompanie von Pina Bausch: Es gab keine Barriere zwischen Kunst und Leben.

Elisabeth Clarke:

Diese Tour war mit dem Strawinsky-Abend und dem Brecht/Weill-Abend [Die sieben Todsünden] geplant, und wir haben den Brecht/Weill-Abend gestrichen, weil die Reaktionen zu negativ waren. Das Goethe-Institut war auch der Meinung, dass wir Die sieben Todsünden nicht weitermachen sollen. Ja, schon wieder kulturelle Unterschiede. Wir haben also nur noch den Strawinsky-Abend gemacht, und die Schauspieler und Sänger sind einfach mitgefahren. Sie waren da, sie haben die ganze Tour gemacht, aber sie mussten nicht mehr auftreten. Wahrscheinlich haben sie nur eine Aufführung gemacht und dann nicht mehr.

Ricardo Viviani:

Eine weitere technische Frage zu der Tour: War es für Pina Bausch und die Kompanie herausfordernd, sich den verschiedenen Bühnen anzupassen?

Elisabeth Clarke:

Absolut. Es war eine totale Herausforderung, weil die Bühnen so unterschiedlich waren. Als wir auf den Philippinen waren, hatten wie eine riesige Bühne, so groß, dass das Bühnenbild für Das Frühlingsopfer aussah wie ein kleiner Teppich mittendrin. Ich habe bereits von der Bühne in Bangkok mit den zwei Ebenen erzählt. Dann waren wir irgendwo, wo es keine Technik gab, die Beleuchter improvisierten, sie haben ein paar Strahler gehängt, sehr improvisiert. Ich erinnere mich, dass uns gesagt wurde, erzähl das hier niemandem, weil es absolut nicht sicher war. Dann hatten wir eine Bühne, die so klein war, dass wir Das Frühlingsopfer in Schichten machen mussten: Ein Teil der Kompanie spielte einen Teil, dann verließen sie die Bühne und die anderen kamen hinzu und spielten einen anderen Teil. Wir konnten nicht gleichzeitig auf der Bühne sein, so winzig war es.

5

Kapitel 5.1

Kontakthof
58:51

Ricardo Viviani:

In der Spielzeit 1977/78 entstand das Stück Kontakthof. Erinnerst du dich an die Arbeitsweise? War sie anders als zuvor und wie?

Elisabeth Clarke:

Ja, es war ganz anders als zuvor. Es gab noch Momente, in denen es Choreografie gab, vorgegebene Bewegungen. Aber bei Kontakthof haben wir angefangen, mit Aufgaben zu arbeiten: Pina Bausch stellte eine Frage, und dann improvisierten wir szenisch die Antworten — manchmal mit Sprache, manchmal ohne. Es waren kleine kurze Szenen, und Marion Cito saß da und schrieb alle Fragen und alle Szenen auf. Nichts hatte mit etwas anderem zu tun, und wir wussten nicht wirklich, was wir taten. Was cool war, weil wir uns einfach auf die Frage und die Suche nach einer Antwort konzentriert haben. Es war ein Prozess, in dem klar wurde: Was Pina wollte, war unsere subjektive Wahrheit. Sie wollte keine Idee von etwas haben, sie wollte die Sache selbst. Zum Beispiel fragte sie: „Wenn du in einem Café wärst und Aufmerksamkeit erregen möchtest, was würdest du tun?“ Sie wollte echte Sachen, was würdest du tun? Also, eine hat ihre Tasche fallen lassen und alles ist herausfallen, oder jemand hatte einen Niesanfall. Das sind die Sachen, die sie Marion hat aufschreiben lassen. Dann, an einem bestimmten Punkt, fing sie an, Dinge zusammenzusetzen.

Elisabeth Clarke:

Diese Arbeitsweise hatte schon mit Blaubart begonnen, aber sie wurde tatsächlich DIE Arbeitsweise ab Kontakthof. Sie sagte zum Beispiel: „Ähm, lass uns das Café sehen. Nur die Mädchen machen das, und die Männer stehen einfach herum.“ Und das machten wir, dann sagte sie: „Okay, schauen wir uns das Gleiche an, das Café, und nur die Männer machen es, und die Mädchen sind alle zusammen in einer Ecke.“ Das machten wir. Wir machten viele verschiedene Variationen von Szenen, die wir zuvor gemacht hatten. Manchmal konnten wir uns nicht genau erinnern, aber zum Glück hatte Marion ihre Notizen. Wir machten all diese Variationen, und wiederholten sie wieder und wieder, bis Pina Bausch sah, was sie wollte. Sie wusste nicht, was sie wollte, aber als sie es sah, sagte sie: „Ja, das ist es. Das werden wir so machen.“ Also mussten wir uns daran erinnern, was wir getan hatten. Ich hatte irgendwo in meinen Schränken zu Hause einige Notizen. Ich habe einige Notizbücher mit meinen Notizen zu diesem Stück, und es ist, als ob ich nicht wüsste, was ich geschrieben habe, ich kann mir keinen Reim darauf machen. Das war die Arbeitsweise, und wir hatten viele Freiheiten, aber als es entschieden war, wurde es festgelegt. Nun, das hat Spaß gemacht. Am Ende wussten wir immer noch nicht wirklich, was wir taten, weil es keine Geschichte gab. Wir haben bei A angefangen und fahren fort und kommen zu Z, aber jeder von uns hat irgendwie eine Geschichte für sich selbst erfunden, um durchzukommen.

Ricardo Viviani:

Interessant, du hattest also einen eigenen Weg gefunden, um durch das Stück zu kommen, eine eigene Geschichte. Was war deine Geschichte? Vielleicht kannst du es nicht so konkret sagen, aber wie bist du damit umgegangen?

Elisabeth Clarke:

Ich bin damit umgegangen, indem ich mich an einige meiner Erfahrungen in misslungenen romantischen Beziehungen erinnerte. Zum Beispiel die Frage: „gesehen werden wollen“. Ich dachte, ich will gesehen werden und glaubte, dass ich gesehen wurde. Dann wurde mir klar, dass das nicht so war. Das war meine Geschichte, aber sie stammte aus meiner Erfahrung.

Ricardo Viviani:

Diese Ballsaal-Umgebung, in der sich Leute treffen, hat dich das an irgendwas erinnert, wie bei einem Abschlussball oder etwas Ähnlichem?

Elisabeth Clarke:

Zu der Zeit gab es hier in Wuppertal ein Puff [ein Bordell], das hieß tatsächlich Kontakthof. Mein Kollege John Giffin sagte: „Lass uns dorthin gehen und sehen, wie es ist.“ Wir gingen hin, und es sah ziemlich genau so aus wie unser Bühnenbild. Wir waren nur einige Minuten dort, dann kam jemand und sagte uns, dass Ich nicht da sein könne. Wir erklärten, dass wir uns nur für ein Theaterstück umschauen wollten. Mehr haben wir nicht gesagt, aber sie sagten uns trotzdem, wir sollten gehen. Aber es war lange genug, um die Atmosphäre zu sehen und zu spüren. Schrecklicher Ort, es fühlte sich an wie ein Parkhaus mit schlechten Neonlichtern, und ich dachte: „Wow. Das ist ziemlich seltsam.“ Ich dachte an einen „Ball der einsamen Herzen“, all die Leute, die dort waren, waren alle sehr einsam.

Ricardo Viviani:

Wir haben über Kontakthof im Sinne eines Lonely Hearts Club oder einer gescheiterten Liebe gesprochen. Wenn wir Kontakthof in Gegensatz zu Das Frühlingsopfer betrachten, wie viel die Struktur das Stück trägt, oder wie sehr hängt das vom Interpreten mit seinen persönlichen Erinnerungen ab?

Elisabeth Clarke:

Die Stücke dieser Zeit mit Pina Bausch beruhten sehr darauf, dass sich jeder von uns damit beschäftigte, wer wir auf der Bühne sind. Wir haben keine Charaktere gespielt, es gab keine Charaktere. Es war alles: Was du siehst, ist was es ist. Wir waren alle mit unseren eigenen Erfahrungen und Persönlichkeiten dort. Das hat die Stücke zu dem gemacht, was sie waren. Es war, als ob die Kompanie das war, was die Stücke waren. Die Vision war Pina Bauschs Vision. Aber das Material war, wer wir waren.

Ricardo Viviani:

Als Darsteller gibt es auch eine Lernkurve. Wie du lernst, auf der Bühne du selbst zu sein. Wie wurde das zustande gebracht? Wie war dieser Prozess des Lernens, was Wahrhaftigkeit des Selbstseins ist?

Elisabeth Clarke:

Dorthin zu gelangen war ein organischer Prozess. Zunächst war da eine Choreografin, die uns die Bewegung zeigte. Als wir ein bisschen mehr Freiheit bekommen haben und uns die Fragen gestellt wurden, haben wir uns in diese Richtung bewegt. Es ist nicht alles auf einmal passiert. Wenn Pina Bausch das Gefühl hatte, dass jemand nicht ehrlich war, wurde den Beitrag nicht ins Stück aufgenommen. Wenn wir Material sammelten und sie dabei das Gefühl hatte, dass etwas nicht wahrhaftig war, hat sie das nicht ins Stück aufgenommen. Durch solche Prozesse haben wir also gelernt, die Frage einfach zu beantworten. Die Leute denken, dass es viel Mut erfordert, sich auf der Bühne so zu zeigen, aber ich jedenfalls brauchte keinen Mut dazu, es war einfach okay. Das machen wir jetzt so, und es schien eine ganz natürliche Sache zu sein.

Kapitel 5.2

Arien
1:11:34

Ricardo Viviani:

Nach Kontakthof folgt ein weiteres Stück namens Arien. Hast du Erinnerungen an das Stück?

Elisabeth Clarke:

Arien. Ich habe niemals etwas persönlicheres als Arien gemacht. Es war eine intensive Zeit für uns. Eine sehr intensive Zeit für uns. Einer unserer Kollegen wurde sehr krank. Er dachte zuerst: „Nun, ich habe die Grippe und werde zu Hause bleiben.“ Aber es ging ihm einfach nicht besser, und er ging ins Krankenhaus. Wir haben weiter geprobt und Material gefunden. Am einen Tag waren wir hier in diesem Raum und sind fast verrückt geworden. Die Frage lautete: „Du bist auf einer Party, und dann stellst du fest, dass alle Türen verschlossen sind. Was machst du?“ Pina Bausch ließ das fast eine Stunde lang laufen, erst als einer der Tänzer eine Rolle Toilettenpapier nahm und die Leute einwickelte, dann ein Streichholz nahm und das Toilettenpapier anzünden wollte, hörte es auf. Aber das war nur eine Probe, wir hatten viele Proben. Während dieser Zeit ging es unserem Kollegen einfach nicht besser, und wir waren alle tief involviert, telefonierten mit dem Institut für Tropenmedizin und fuhren seine Familie hin und her.

Elisabeth Clarke:

Wir konnten ihn nicht erreichen. Er entfernte sich immer weiter und weiter von uns. Er hatte Fieber. Er war im Delirium. Sie packten ihn in Eis, um das Fieber zu senken, aber nichts konnte dieses Fieber senken. Die Verzweiflung, die wir verspürten, war in dem Stück enthalten. Es war da. In Arien gibt es eine Szene, in der es regnet, die Bühne ist mit Wasser bedeckt. Jemand rennt auf die Bühne und fängt an wild zu tanzen, richtig zu tanzen und das Wasser spritzt ringsherum. Jemand anderes rennt auf die Bühne und ruft ihren Namen und versucht verzweifelt, sie zum Aufhören zu bewegen, aber sie hört nicht auf und rennt weg. Dann kommt das nächste Paar und das nächste Paar und so weiter. Ja. Es war so intensiv. Jedes Mal, wenn ich diese Szene gemacht habe, war es für mich, als ob unser kranker Kollege sich bewegte und tanzte und jemand anderes rief ihn verzweifelt und versuchte, ihn zum Zurückkommen zu bewegen. Ich kann mir vorstellen, dass es für die Kollegen auch so war. Das war alles in Arien. Oh ja, sehr intensiv. Ebenfalls zu dieser Zeit, nachdem Luis P. Layag gestorben war, war auch Rolf Borzik sehr krank. Es ging ihm besser, dann wurde er wieder krank. Und es ging ihm besser, und dann wurde er wieder krank. Wir hatten dieses Gespenst des Todes da drin und die Hilflosigkeit, die du fühlst. Teile von Arien waren sehr leicht, aber wenn es nicht leicht war, war es so dunkel. Ich erinnere mich, wie ich mehrmals auf der Bühne richtig geweint habe, während ich getanzt habe. Ja. Das warArien.

Ricardo Viviani:

In Arien sind auch das Bühnenbild, die Requisiten und Kostüme sehr ungewöhnlich, hast du Erinnerungen daran?

Elisabeth Clarke:

Ja, das tue ich. Eine Sache war, dass ich für jede Aufführung von Arien ein Käsesandwich und einen Schokoladenpudding von der Requisiten-Abteilung bekam. Sie mussten das jedes Mal machen oder kaufen, weil ich tatsächlich in einer Szene den Schokoladenpudding gegessen habe. Das hat Spaß gemacht. Die andere Sache war dieses Nilpferd in Arien. Sie machten eine Art Latexabdruck von einem Nilpferd, und sie hatten zwei Leute, die in dieses Nilpferd hineinstiegen, und die konnten wirklich nichts sehen. Sie hatten also ein Walkie-Talkie, und Hans Pop stand mit einem Walkie-Talkie am Bühnenrand und sagte ihnen: „Okay. Geradeaus. Stopp. In Ordnung. Biegt nach rechts ab. Geh. Stopp.“ Er führte Regie beim Nilpferd. Das Problem war, dass ihnen durch die Latexdämpfe sehr schwindelig wurde. Es gab eine Zeit, in der das Nilpferd zur Seite ging und sie ein wenig durchatmen konnten. Aber eigentlich war es ein schrecklicher Job, weil es in diesem Latex-Ding wirklich heiß war, aber sie haben es geschafft. Von außen konnte man das alles natürlich nicht sehen. Bei der Premiere war das Nilpferd noch nicht fertig, es musste noch zu Ende trocknen. Also ließen wir Hans Dieter Knebel vom Theater in Bochum kommen und das Nilpferd spielen. Es war wunderbar, es war wirklich wunderbar. Er hat nichts gesagt, er ist nur herumgelaufen. Manchmal setzte er sich hin, stand auf und ging herum und sah die ganze Zeit ein bisschen traurig aus. Es war fantastisch, und ich bin mir nicht sicher, welche Version ich bevorzuge.

6

Kapitel 6.1

Rolf Borzik
1:20:11

Ricardo Viviani:

In Arien wurden alle Kulissen und Kostüme von einer Person kreiert: Rolf Borzik. Hast du Erinnerungen an die Zusammenarbeit mit ihm?

Elisabeth Clarke:

Rolf Borzik war brillant, einfach brillant. Er verstand Pina Bausch, er verstand, was sie brauchte. Wenn sie eine Idee hatte, sprach sie mit Rolf darüber, er ließ sich etwas einfallen und besprach es mit ihr. Zum Beispiel wie dieses Bild in Blaubart, wo die Frauen an der Wand hängen. Das war nur eine Idee von Pina, und er hat es möglich gemacht. Er hat herausgefunden, wie das geht. Oder die Kostüme: Er hat nicht einfach Sachen aus dem Kostümfundus genommen, die Kostüme wurden für uns entworfen und hergestellt. Dieses wunderschöne Seidenkleid für Arien wurde für mich gemacht. Ich habe geweint, als wir es im Wasser nass machen mussten. Rolf Borzik nahm jeden von uns individuell sehr ernst und sagte: „Oh, für dich kann ich dies tun, und für dich kann ich das tun.“ Rolf war so unglaublich, einfach unglaublich. Er wusste, was benötigt wurde, und wusste, wie man das produziert. Ein anderes Beispiel ist die Idee, dass die Bühne mit Wasser bedeckt wird, wie geht das? Oder wie macht man ein Nilpferd? Er hat nie nein gesagt. Er hat immer einen Weg gefunden, Sachen zu verwirklichen.

Kapitel 6.2

Erlebnisse
1:23:14

Ricardo Viviani:

Im Sommer 1980 gab es eine weitere vom Goethe-Institut gesponserte ausgedehnte Tournee durch Südamerika. Es gab zwei Programme: Zum ersten Mal seit 1978 wurde wieder Café Müller gespielt, dazu einige der Strawinsky-Stücke und Kontakthof. Hast du Erinnerungen an Orte und besondere Sachen, die du uns erzählen könntest?

Elisabeth Clarke:

Ich habe eine wirklich gute Zeit mit dieser Tour gehabte. Ich erzähle zuerst das Außergewöhnlichste, das auf dieser Tour passiert ist. Wir sind nach Santiago de Chile gefahren. Viele von uns wollten nicht nach Santiago de Chile fahren, weil wir nicht vor Pinochet und seinen Freunden auftreten wollten. Wir hatten eine echte Diskussion darüber. Pina Bausch sagte: „Ihr müsst hingehen und ihr müsst diese Aufführung machen.“ Es war das einzige Mal, dass ich sie etwas kategorisch sagen hörte: „Du darfst dazu keine Meinung haben.“ Das habe ich nie vorher gehört. Das war das einzige Mal, dass ich das je gehört habe. Wir waren damit nicht einverstanden, irgendetwas mussten wir machen. Also beschlossen wir, dass wir uns nicht verbeugen wollten, aber auch das mussten wir tun.

Elisabeth Clarke:

Am nächsten Tag hatten wir einen Workshop, denn auf diesen Touren hatten wir immer Workshops. Wir beschlossen, die gesamte Aufführung in dem Workshopsraum noch einmal zu machen. Für den Eintritt fielen keine Kosten an. Also, all diese Studenten und jungen Leute, die sich kein Ticket leisten konnten, kamen alle. Sie saßen und standen alle am Rand der Wände, und wir haben die gesamte Aufführung durchgemacht. Als wir Das Frühlingsopfer gemacht haben, war der Abstand zwischen dem Tänzer und der ersten Person so gering (zeig). Sie waren sehr nah dran, und dieser Raum hatte einige Fenster, aber diese Fenster waren sehr hoch, wie in einer Turnhalle. Wir haben Das Frühlingsopfer gemacht, nicht in Kostümen, sondern in Trainingskleidung. Das Publikum war von unserem Schweiß bedeckt, sie konnten kaum atmen, und wir konnten kaum atmen, aber wir waren so sehr beieinander. Am Ende fielen wir uns alle in die Arme und umarmten uns, voller Schweiß und Tränen. Es war wie ein Geschenk, es war so besonders. Das war das Außergewöhnlichste, was auf dieser Tour passiert ist. Das geben zu können, war sinnvoller, als zu protestieren und nicht auf die Bühne zu gehen. Es machte so viel mehr Sinn. Ich glaube, wir tanzten an diesem Tag besser.

Elisabeth Clarke:

Andere Dinge auf der Tour. Ich konnte auch wirklich ein Tourist sein. Wir haben viele touristische Dinge gesehen. Ich habe Pina Bausch auch erklärt, dass jeder in Brasilien das machen kann (zeigt), um Töne zu machen. Wir aßen in einem Restaurant zu Abend und sie sagte: „Nun, ich glaube nicht, dass das jeder tun kann.“ Und ich sagte: „Doch, das kann jeder.“ Also stand ich einfach auf und ging zu einem Tisch und sagte: „Entschuldigung, können Sie das tun?“ Und sie sagten, klar, und dann ging ich zu einem anderen Tisch und sie haben es getan, also sagte ich ja, ich glaube, jeder kann das. Das war nur eines dieser kleinen Dinge, die passiert sind. Dann in Rio de Janeiro zu sein, und ich denke nur: „Wow. Wo ist dieser Ort?“ Ich meine, um diese Bucht zu sehen, Rio sah einfach fantastisch aus. Ich erinnere mich, dass sie in Mexiko-Stadt Sauerstoffflaschen hinter der Bühne hatten, falls jemand Sauerstoff brauchte. Das hatten wir in Mexiko-Stadt und wir hatten es in... Bogotá, glaube ich. Lima oder Bogotá war das, aber ich glaube nicht, dass es jemand gebraucht hat. Was eigentlich überraschend ist, aber wir waren einfach so von dem eingenommen, was wir taten.

Ricardo Viviani:

Hast du mit der Kompanie die Tangokultur von Buenos Aires erlebt?

Elisabeth Clarke:

Ja, das haben wir. Jemand vom Goethe-Institut hat uns zu einem Tangoort mitgenommen, keinem touristischen Tangoort, sondern so einen, den man nur kennt, wenn man dort lebt. Dort haben wir diese wirklich pure Tangokultur erlebt. Der Ort war sehr dunkel. Es war wirklich interessant, die Sinnlichkeit des Tangos zu sehen, genau so wie es ist, ohne dass es andere Konsequenzen hat. Während die Menschen tanzten, waren sie in einer extrem intensiven und sinnlichen Verbindung. Und wenn der Tanz vorbei war, setzten sie sich hin, und das war's. Das war wirklich faszinierend. Da war ein Typ, der Bandoneon spielte: ein sehr kleiner Mann, und als er spielte, wurde er so rot im Gesicht, dass man dachte, er würde explodieren. Dann, als er aufhörte, war es wie, jetzt kann ich wieder atmen. Dann spielte er wieder, und es war wieder dasselbe.

Kapitel 6.3

Intensität
1:31:53

Elisabeth Clarke:

Ich habe viel über Intensität gesprochen. Mir scheint es etwas zu geben, was passiert, wenn man in der Nähe von Pina Bausch ist. Man hat intensive Erlebnisse, meistens ohne Worte. Diese besondere Kunstform, die durch Bewegung, durch den Körper geht, verleiht eine Intensität, die man mit Worten nicht erreicht. Die Intensität, jemand anderen zu erleben, ohne dass es sexuell ist, ohne dass es romantisch ist. Es geht einfach darum, jemandem nahe zu sein, in seine Welt und in seine Persönlichkeit einzutreten, und es dabei zu belassen, das genug sein zu lassen. Das ist die Essenz der Erfahrungen, die ich immer wieder gemacht habe, während ich mit Pina Bausch gearbeitet habe.

Ricardo Viviani:

Nach all diesen intensiven Erlebnissen – gab es einen Auslöser, einen Trigger für dich, dass es an der Zeit war, weiterzugehen, oder wie war das für dich?

Elisabeth Clarke:

Ich kann nicht sagen, dass es ein Trigger war, weil ich mich nicht getriggert fühlte. Vor allem nach den Erlebnissen von Arien hatte ich das Gefühl, einen Punkt erreicht zu haben, an dem ich voll bin und diese Erfahrung vollständig ist. Ich erinnere mich, dass Pina Bausch mich gefragt hat: „Warum willst du gehen?“ Und ich sagte: „Ja. Ich habe jetzt genug.“ Aber nicht im Sinne von „Ich habe GENUG“. Ich sagte: „Weißt du, etwas kann gut sein, und dann gibt es einen Punkt, an dem du genug hast. Es ist, als würde man Eiscreme essen. Eiscreme ist wunderbar. Aber es gibt einen Punkt, an dem du genug hast.“ Und so habe ich mich gefühlt. Ich hatte das Gefühl, dass etwas vollständig war. Es war rund, es war vollständig, ich habe so viel gelernt. Mir wurde so viel gegeben, und ich habe so viel gegeben, und es war vollständig, und ich konnte zur nächsten Sache übergehen.

1:35:46

Ricardo Viviani:

All diese Erfahrungen und all diese Menschen, von Philadelphia über Maurice Béjart bis Karlheinz Stockhausen und Pina Bausch, diese Erfahrungen, die du 1980, vor etwa 40 Jahren, gemacht hast und die miteinander verknüpft sind, möchte ich in dieser einen Frage zusammenfassen: Was ist Tanztheater?

Elisabeth Clarke:

Was ist Tanztheater? Ich weiß nicht, was es ist, ich weiß, was es für mich war. Für mich ging es darum, einfache, gewöhnliche Menschen anzusehen und mein Herz berühren zu lassen. Um Mitleid mit ihren Kämpfen und Bewunderung dafür, dass sie trotz ihrer Kämpfe weitermachen. Zu lernen, das zu sehen, und zu lernen, das für diese Leute auf der Bühne widerzuspiegeln. Das war Tanztheater für mich. Auch: Wahrnehmen, dass ich genauso bin wie sie. Zu lernen, mich mit einem liebenden Auge durch die Welt zu bewegen, und dieses liebevolle Auge auf das zu richten, was ich jetzt tue. Das ist es, was Tanztheater für mich war.



Rechtliches

Sämtliche Inhalte dieser Webseite sind urheberrechtlich geschützt. Eine Nutzung ohne vorherige schriftliche Zustimmung der jeweiligen Rechteinhaber:innen ist unzulässig und kann rechtlich verfolgt werden. Bitte nutzen Sie für Nutzungsanfragen unser Kontaktformular.

Hier finden Sie eine Übersicht der Kontakte der Fotograf:innen, deren Arbeit im digitalen Archiv sichtbar wird.

Sollte trotz umfangreicher Nachforschungen ein:e Urheber:in des hier verwendeten Quellenmaterials nicht identifiziert und um eine Genehmigung zur Veröffentlichung ersucht worden sein, wird um schriftliche Mitteilung gebeten.

Kontakt

Nach unten scrollen
nach oben