Zum Inhalt springen
Zurück

Interview mit Jan Minařík, 15.5.2022 (1/3)

Dies ist der erste Teil einer dreiteiligen Interviewreihe aus dem Jahr 2022. Hier tauchen wir ein, in die Erinnerungen von Jan Minařík. Während des Kalten Krieges suchte Jan Minařík nach einem Weg, der ihn davor bewahren sollte, als Soldat eingezogen zu werden. Er erzählt von seiner Entscheidung, das Turnen hinter sich zu lassen und sich dem Tanz zuzuwenden - eine Entscheidung, die sein Leben prägte.
Jans Geschichte hat viele Facetten: Sie thematisiert seinen Weg als Tänzer, seinem Talent als Geschichtenerzähler, dem scharfen Auge für Dramaturgie, seinem Humor und der Leidenschaft für die Fotografie. Dieses Hobby war ein wichtiger Teil seines Werdegangs. Seine Kamera war ständig präsent und begleitete ihn sowohl auf der Bühne als auch hinter den Kulissen, wenn er sich auf seinen Auftritt vorbereitete.
Was Jan Minařík motivierte, war sein Wunsch, mit seinem Publikum in Kontakt zu treten. Er sah es als Herausforderung an, das Publikum in seinen Bann zu ziehen und ihm das Gefühl zu geben, ein integraler Bestandteil der Aufführung zu sein. „Das Publikum in meiner Hand zu haben“, sagt er, „war ein entscheidender Aspekt für mich.“

© Pina Bausch Foundation

Interviewte PersonJan Minařík
Interviewer:inRicardo Viviani
KameraSala Seddiki

Permalink:
https://archives.pinabausch.org/id/20220515_83_0001

1. Familie und Ausbildung

Kapitel 1.1
Bauernhof

Ricardo Viviani:

Wir sind gestern hierher gekommen – und von einer Grenze hat man gar nichts mehr bemerkt! War das früher auch so?

Jan Minařík:

Am Anfang durfte man keine Pflanzen über die Grenze bringen und man wurde kontrolliert. Und ich heiße Jan Minařik und ein berühmter tschechischer Spion – der war beim Radio Freies Europa –, der hieß auch Minařik! Und da kamen diese tschechischen Beamten, um mich zu durchsuchen – weil sie gedacht haben, ich sei dieser berühmte Spion!

Kapitel 1.2
Prager Konservatorium

Jan Minařík:

Ich komme aus Prag. Und ich habe bis zu meinem 21. Lebensjahr in Prag gelebt. Und dann bin ich nach Brünn gegangen, weil ich nach meiner Konservatoriums-Zeit am Nationaltheater Prag engagiert war. Aber da hat es mir irgendwann nicht mehr gefallen, also bin ich nach Brünn gegangen, heute Brno. Und als danach die Freunde aus Russland und Ostdeutschland und Polen nach Tschechien kamen und eigentlich Tschechien okkupiert haben, da habe ich ein Engagement in Innsbruck in Tirol angenommen. Und da habe ich sogar einen Titel bekommen: „Erster Landes-Solo-Tänzer von Tirol“! Das war der Titel! Und weil ich diesen Titel hatte… jedes Mal, wenn die Polizei mich kontrolliert hat und ich ins Röhrchen blasen musste, dann sind die mit mir und diesem Alkoholtest zum Polizeipräsidenten gefahren und der hat den immer in den Papierkorb geschmissen und hat mir gesagt: Aber Herr Minarik, fahren Sie vorsichtig nach Hause!

Jan Minařík:

Ich habe vorher geturnt und ich dachte, ich werde nicht mit der Waffe dienen müssen, sondern darf turnen! Aber dann hatte ich einen Unfall - und es war vorbei mit dem Turnen. Und dann habe ich gehört, dass sie ein Militär-Tanz-Ensemble haben in Prag. Und dann habe ich versucht, ein bisschen tanzen zu lernen. Dann bin ich in das Hochschul-Tanz-Ensemble gekommen, da hat eine Frau Training gegeben. Und sie kam danach zu mir und sagte mir, dass sie die Professorin für Modernen Tanz am Konservatorium ist und dass ich einfach versuchen soll, Tanz zu studieren! Und dann bin ich zur Aufnahmeprüfung gegangen am Konservatorium – da waren 600 oder 800 Konkurrenten, die schon jahrelang Ballett gemacht haben und tanzten. Und dann hat man uns gesagt: Jetzt springen Sie im Grand Jeté über die Diagonale! Und Jenischko - das heißt „Janchen“ -, spring mal wie über einen Bach! Ja, und ich wurde dann angenommen und habe angefangen zu trainieren - und habe wirklich jeden Tag mindestens acht Stunden trainiert! Normalerweise gab es dort eineinhalb Stunden Klassischen Tanz und eineinhalb Stunden Folklore und eine Dreiviertelstunde Modernen Tanz! Aber ich habe zusätzlich noch bis neun Uhr abends trainiert – denn ich bin noch in diese Hochschul-Tanzgruppe gegangen und habe dort noch weitergemacht, bis elf Uhr! Und da waren auch sehr gute Tänzer mit mir in der Klasse - Jiří Kylián zum Beispiel. Und wir gingen immer zusammen nach Prag in so ein altes Kino, wo Musik gespielt wurde, mit 32 Kanälen, damit man die Musik ganz genau hören konnte. Dann habe ich Abitur gemacht am Konservatorium und gleich danach wurde ich am Nationaltheater Prag engagiert. Und damit ich nicht zum Militär gehen musste, habe ich offiziell Pädagogik an der Akademie für Musikalische Künste studiert.

2. Erste Jahre in Wuppertal

Kapitel 2.1
Von Prag bis nach Wuppertal

Jan Minařík:

Und ich bin von Prag aus nach Brünn gegangen und von dort nach Innsbruck und von Innsbruck nach Wuppertal – damals noch in die Klassische Compagnie. Da habe ich den Prinzen in „Cinderella“ getanzt und solche Rollen. Aber dann habe ich Probleme mit meiner linken Hüfte bekommen und ich wurde operiert und es war dann eigentlich ok, aber ich habe gedacht, vielleicht ist es besser, ich versuche es in Essen, in der Folkwang-Schule, um dort zu unterrichten. Und der damalige Leiter der Folkwang-Schule, Herr Züllig, hat mir dort eine Professur angeboten. Dann kamen Herr Jooss, Pina Bausch, und Anna Markard – die Tochter von Herrn Jooss – nach Essen, und haben mir gesagt, dass sie in Wuppertal einen Tänzer für den „Tod“ im Grünen Tisch brauchen. Das war die Uraufführung - das war der Abend mit Fritz, Rodeo und Grüner Tisch. Und dann haben die mich überredet – und ich habe weiter getanzt. Mir hat das sehr gefallen, was Pina gemacht hat. Und als Pina die „Venusberg“-Szene gemacht hat in der Oper, habe ich mir die Generalprobe angesehen. Und dann saßen Pinas Tänzer in der Kantine an einem Tisch und ich bin zu ihnen hin gegangen und hab ihnen gesagt, dass mir das sehr gefallen hat! Und danach hat von dem Klassischen Ballett-Ensemble kein Mensch mehr mit mir gesprochen!

Kapitel 2.2
Fotografie

Jan Minařík:

Ich war bei Macbeth dabei, das heißt Er nahm sie an der Hand und führte sie in das Schloss. Und da habe ich auch Beatrice Libonati kennen gelernt! Sie hat vorgetanzt – und ich habe ihr noch Training gegeben damals. Und ich möchte noch etwas hinzufügen: Pina war damals mit Rolf Borzik zusammen. Und er hatte Leukämie – und ich habe eigentlich auf ihn aufgepasst. Ich war mit ihm von 7 Uhr früh an bis nachts zur Schlafenszeit zusammen – dann habe ich die noch nach Hause gebracht und Rolf Borzik hat mir Fotografieren beigebracht. Und ich habe danach im Keller meines Hauses ein Foto-Labor aufgebaut und da Fotos entwickelt. Ich hatte nicht viel Geld damals – daher habe ich immer Meter-Material gekauft: So 21 Meter Schwarz-Weiß-Film und die habe ich schön reingestopft in die Kassetten und jeden Tag mindestens drei Filme gemacht. Ich habe tausende Fotos! Ich habe ein Buch über Pina und ihre Familie zusammengestellt – das sind allein 117 Fotos! Und ich war mit Pina und Rolf oft bei ihren Eltern, über die Ferien. Die wohnten in der Nähe von Frankfurt damals. Und dann habe ich Fotos von ihrem Vater, ihrer Mutter, von Pina und ihrem Privatleben gemacht – diese Fotos gibt’s nirgendwo sonst auf der Welt!

Ricardo Viviani:

Du als Tänzer und Fotograf: Du warst sogar im Probenraum oder hinter der Bühne! So sind all diese Fotos entstanden!

Jan Minařík:

Ich habe im Verlauf der Vorstellungen fotografiert. Ich habe bei Café Müller fotografiert – auf der Bühne, von der Seite! Und dann bin ich selbst aufgetreten.
Ja, ich hatte immer eine Tasche dabei, da waren meine Cannon-Kameras drin und fünf Objektive – 28er, 50er, 75er, 200er und so.

3. Blaubart

Kapitel 3.1
Ballettschule in Unterbarmen

Jan Minařík:

Hinter Polizeipräsidium habe ich meine Ballettschule gehabt. Dort ist Blaubart entstanden. Da waren Rolf, Pina, Marlis, Ed Kortlandt und Yolanda. Der Rest haben eine Oper gemacht.

Kapitel 3.2
Blaubart

Jan Minařík:

Wir haben bei mir zuhause gearbeitet. Wir haben auch mein Tonbandgerät benutzt – mit dem Zurückspulen und so. Das Tonband habe ich dann auch dem Theater geschenkt. Wir haben noch ein zweites Ersatz-Tonband gefunden. Und dann kam ich mit Beatrice zusammen und als ich bei ihr war, rief mich Pina irgendwann in der Nacht an und sagte: Dem Rolf geht es total schlecht, ob ich kommen könne? Da bin ich zu ihm gefahren, er hatte schon eine Sepsis. Man hatte ihm einen Monat zuvor die Milz entfernen müssen. Nach der Operation war ich noch mit meinen Eltern bei Rolfs Eltern in den Niederlanden.

Kapitel 3.3
Tanzkultur

Ricardo Viviani:

Soňa Červená hat in Macbeth mitgewirkt, sie war die einzige Sängerin. Da waren Tänzer, Schauspieler und Sänger beteiligt. Das war eine bunte Mischung an Möglichkeiten, was die Leute machen können…?

Jan Minařík:

Wir hatten Malou, Dominique, und Jo-Ann dabei - und Hans-Dieter Knebel, der bei uns als Assistent angefangen hatte. Und danach war er im Stück beteiligt und hat seine Karriere begonnen. Danach war er in Wien, im Burgtheater. Ja, das war schon eine interessante Zeit!

Ricardo Viviani:

Aber wie war bei all den unterschiedlichen Fähigkeiten der Tänzerinnen und Tänzer eigentlich die Zusammenarbeit? Hat da jeder mitgeredet? Ein Tänzer denkt anders als ein Schauspieler oder eine Sängerin: Wie ist Pina damit umgegangen?

Jan Minařík:

Ich habe Glück gehabt! Schon damals, als ich in dieser Hochschul-Tanzgruppe war, gab es einen Mann, der hieß Evgeny Růžek, der hat beim Fernsehen gearbeitet. Und der hat mir ermöglicht, alle Filme mit Fred Astaire zu sehen – und all die Sachen von Maurice Béjart. Da habe ich all diese Aufnahmen gesehen. Und dadurch habe ich eine andere Vorstellung vom Tanzen bekommen als die anderen Tänzer damals, die dieses Material nicht kannten.

Kapitel 3.4
Das Publikum erobern

Jan Minařík:

Ja. Ich habe immer einen sehr guten Kontakt zum Publikum gehabt und ich habe die Vorstellungen vom Blaubart geliebt, wo das Publikum getobt, geschrien und geschimpft hat und ich das Publikum letztlich für mich einnehmen konnte! Dieser Kampf war sehr wichtig für mich! Und das hat sich in der Zeit mit dem „Wuppertaler Tanztheater“ verändert. Jetzt kommen die Leute - und klatschen schon vor den Vorstellungen! Es gibt diesen Kontakt zwischen Bühne und Publikum nicht mehr so stark – im Vergleich zu früher.

Jan Minařík:

Ja, das ist eine besondere Art, sich zu entblößen: Die Frau, die er liebt, bis er sie tötet – eigentlich durch die Liebe! Und natürlich müssen die Leute alle das Gefühl kriegen, dass jeder von denen, die auf die Bühne kommen, Blaubart und Judith ist! Das ist sehr wichtig in dem Stück! Aber andere Stücke sind auch ihre wichtige Punkte!

4. Rolf Borzik

Kapitel 4.1
Das Frühlingsopfer

Ricardo Viviani:

Kannst du dich noch an die Entstehungszeit von Das Frühlingsopfer erinnern?

Jan Minařík:

Ja, da hat Pina sehr viel mit Michael Diekamp gearbeitet - an diesen Bewegungen für die Männer. Die Bewegungen für die Frauen hat sie selber entwickelt, glaube ich. Und es ist ein wunderschönes Stück geworden!

Kapitel 4.2
Bühnenbild

Ricardo Viviani:

Rolf und Blaubart – er hat doch immer diese Räume entwickelt. Viele seiner Bühnenbilder sind ein innerer Raum, spielen aber draußen, mit Blättern das bringt natürlich eine andere Farbe in das Stück hinein!

Jan Minařík:

Naja, das hat damit zu tun, dass die Beschaffenheit des Bodens bei den Tänzern zu anderen Bewegungs-Formen führt – ob in Blaubart oder das Wasser auf der Bühne in Arien oder Salz auf der Bühne in Madrid oder diese eingestürzte Wand in Palermo, Palermo. Das bringt eine andere Qualität in die Bewegungen und Verhaltensweisen auf der Bühne.

Ricardo Viviani:

Denn fast alle der Stücke wurden erst mal auf der Probebühne geprobt, in der Lichtburg oder bei dir – aber dann kam man auf die andere Situation auf der Bühne mit dem Wasser oder der Erde oder Natur …

Jan Minařík:

Das war eigentlich schon vorweggenommen. Was ich zumindest weiß, ist, dass Rolf das schon geplant hatte mit Pina. Wie das dann bei Peter Pabst war, kann ich nicht genau sagen. Aber ich weiß, dass Pina den Peter Pabst eigentlich immer zwingen musste, etwas auf den Bühnenboden zu tun, was ihren Vorstellungen entsprach. Und die Ideen hat sie mit mir oft besprochen - und das waren immer wieder Ideen noch von Rolf Borzik.

Kapitel 4.3
Kostüme

Ricardo Viviani:

Auch die Kostüme: Die alltägliche Bekleidung ...

Jan Minařík:

Ja, das war so bei Rolf. Aber dann gab es auch so Produktionen wie Iphigenie und Orpheus – und das war tatsächlich etwas anderes! Das waren Opern, die haben eine andere Ästhetik. Aber sonst hat Marion Cito immer die Kostümen ausgesucht: Meistens waren es gebrauchte Kostüme, gebrauchte Sachen! Aber das war sehr stimmig.

5. Repertoire

Kapitel 5.1
Café Müller

Ricardo Viviani:

4 Choreografen und Konzept

Jan Minařík:

Ja, bei Café Müller – da war das Thema, glaube ich: Schwarze Brille, Stühle und Tisch, glaube ich!...
Eine rote Perücke! Da hat Hans Pop die Choreographie gemacht – ich weiß nicht, wer noch…
[…Gerhard Bohner und Gigi Caciuléanu.]
Jedenfalls habe ich nur in Café Müller von Pina mitgetanzt und da waren damals Pina, Malou, Dominique, Nazareth und ich beteiligt. Meryl, Nazareth hat das übernommen!

Ricardo Viviani:

Aber wer hatte die Idee? Pina, Rolf, beide zusammen, du oder…?

Jan Minařík:

Diese Tische und Stühle, das war die Idee von Rolf.

Kapitel 5.2
Arien

Ricardo Viviani:

In Arien

Jan Minařík:

Da habe ich auf der Bühne fotografiert! Dabei habe ich zwei Kameras kaputt gemacht, durch das Wasser! Ja. Da habe ich viel mit Stativ und Selbstauslöser gearbeitet und auch mal eigenhändig.

Jan Minařík:

Sie sind also immer noch da. Jetzt hat man da bestimmt einen ganz anderen Blick darauf, einen Blick ins Innere! Und im Grunde ist es ein Teil des Stücks!


Rechtliches

Sämtliche Inhalte dieser Webseite sind urheberrechtlich geschützt. Eine Nutzung ohne vorherige schriftliche Zustimmung der jeweiligen Rechteinhaber:innen ist unzulässig und kann rechtlich verfolgt werden. Bitte nutzen Sie für Nutzungsanfragen unser Kontaktformular.

Hier finden Sie eine Übersicht der Kontakte der Fotograf:innen, deren Arbeit im digitalen Archiv sichtbar wird.

Sollte trotz umfangreicher Nachforschungen ein:e Urheber:in des hier verwendeten Quellenmaterials nicht identifiziert und um eine Genehmigung zur Veröffentlichung ersucht worden sein, wird um schriftliche Mitteilung gebeten.

Kontakt

Nach unten scrollen
nach oben