Was mich bewegt
2007 wurde Pina Bausch der Kyoto Preis verliehen. Der Kyoto Preis wird jährlich von der Inamori Foundation vergeben. Er ist international der bedeutenste Preis im Kultur-Bereich.
Pina Bausch hat selten über ihre Arbeit gesprochen. Bei der Verleihung in Kyoto musste Pina Bausch jedoch eine Rede halten. Sie spricht in ihren eigenen Worten über ihre Arbeit und ihre Erfahrungen als Tänzerin und Choreografin. Das macht diese Rede sehr besonders.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Inamori Foundation.
Wenn ich zurück blicke in meine Kindheit, Jugend, Studienzeit und die Zeit als Tänzerin und Choreographin – dann sehe ich Bilder. Sie sind voll von Geräuschen, Gerüchen. Und natürlich mit Personen, die zu meinem Leben gehörten und gehören. Diese Bild-Erinnerungen aus der Vergangenheit kehren immer wieder zurück und suchen sich einen Platz. Manches von dem, was ich als Kind erlebt habe, findet sich viel später auf der Bühne wieder.
Lassen Sie mich also mit meiner Kindheit beginnen.
Unvergesslich sind die Kriegserlebnisse. Solingen wurde schwer zerstört. Bei Fliegeralarm mussten wir in den kleinen Bunker in unserem Garten gehen. Einmal ist auch auf einen Teil des Hauses eine Bombe gefallen. Wir aber blieben alle unverletzt. Eine Zeit lang haben mich meine Eltern nach Wuppertal zu einer meiner Tanten geschickt, weil dort ein größerer Bunker war. Sie meinten, ich sei da sicherer. Ich hatte einen kleinen schwarzen Rucksack mit weißen Pünktchen, aus dem eine Puppe herausguckte. Der stand immer fertig gepackt, so dass ich ihn mitnehmen konnte, wenn Fliegeralarm war.
Ich erinnere mich auch an unseren Hof hinter dem Haus. Da gab es eine Wasserpumpe, die einzige in unserer Gegend. Da standen die Leute immer Schlange, um sich Wasser zu holen.
Weil man nichts zu essen hatte, mussten die Leute hamstern gehen. Gegenstände gegen Esswaren tauschen. Mein Vater zum Beispiel tauschte zwei Oberbetten, ein Radio, ein Paar Stiefel gegen ein Schaf ein, damit wir Milch hatten. Dieses Schaf wurde dann gedeckt – und das kleine Lämmchen nannten meine Eltern “Pina.” Die süße kleine Pina. Eines Tages – es war wohl zu Ostern – lag “Pina” als Braten auf dem Tisch. Das Lämmchen war geschlachtet worden. Ein Schock für mich. Seitdem esse ich kein Lammfleisch.
Meine Eltern hatten ein kleines Hotel mit einem Restaurant in Solingen. Da musste ich, ebenso wie meine Geschwister, helfen. Ich habe stundenlang Kartoffeln geschält, die Treppen geputzt, Zimmer aufgeräumt – was man so alles tun muss in einem Hotel. Vor allem aber bin ich als kleines Kind in diesen Räumen herumgeturnt und herumgetanzt. Das sahen auch die Gäste. Chorsänger vom nahen Theater kamen regelmäßig zum Essen in unser Restaurant. Sie sagten immer wieder: “Die Pina muss unbedingt ins Kinderballett.” Und dann haben sie mich eines Tages mitgenommen ins Theater, zum Kinderballett. Ich war damals fünf.
Gleich zu Beginn hatte ich dort ein Erlebnis, das ich nie vergessen habe: alle Kinder mussten sich auf den Bauch legen, dann die Füße und Beine nach hinten hoch nehmen und nach vorn stellen, rechts und links neben den Kopf. Das konnten nicht alle Kinder, bei mir aber war das überhaupt kein Problem. Und die Lehrerin hat damals gesagt: “Du bist ja ein Schlangenmensch.” Ich wusste natürlich nicht, was das bedeutete. Aber ich spürte am Tonfall, wie sie den Satz gesagt hat, dass das irgendetwas besonderes sein musste. Ab da wollte ich unbedingt immer dort hingehen.
Hinter unserem Haus war ein Garten, nicht sehr groß. Dort stand der Familienbunker und ein langes Gebäude – die Kegelbahn. Dahinter lag eine ehemalige Gärtnerei. Dieses große Grundstück hatten meine Eltern gekauft, um ein Gartenrestaurant aufzumachen. Sie fingen als erstes mit einer runden Tanzfläche aus Beton an. Aus dem Rest wurde leider nichts. Aber für mich und alle Kinder in der Nachbarschaft war es ein Paradies. Alles wuchs wild, zwischen Gräsern und Unkraut plötzlich einzelne herrliche Blumen. Im Sommer konnten wir auf dem heißen Teerdach der Kegelbahn sitzen und dunkle, saure Kirschen essen, die über das Dach ragten. Alte Couchen, auf denen man wie auf einem Trampolin springen konnte. Es gab ein altes verrostetes Treibhaus, vielleicht begannen dort meine ersten Inszenierungen. Wir spielten Zoo. Die einen Kinder mussten Tiere sein, die anderen Besucher. Natürlich wurde die Tanzfläche benutzt. Wir spielten, wir wären berühmte Schauspieler. Ich war meistens Marika Röck. Meine Mutter hatte all dies überhaupt nicht gern. Wenn sie kam, gab uns jemand ein Zeichen und alle versteckten sich.
Dadurch, dass in der Nähe in einer Fabrik Schokolade und Bonbons hergestellt wurden, stellten wir Kinder uns immer auf die Gullis, aus denen warme und süße Dämpfe kamen. Geld hatten wir nicht, aber riechen konnten wir.
Auch die Gaststätte in unserem Hotel war für mich hoch interessant. Meine Eltern mussten sehr viel arbeiten und konnten sich nicht um mich kümmern. Abends, wenn ich eigentlich ins Bett gehen sollte, habe ich mich unter den Tischen versteckt und bin einfach geblieben. Ich fand das, was ich sah und hörte sehr aufregend: Freundschaft, Liebe, Streit – alles möglich eben, was man in solch einer Nachbarschaftskneipe erleben kann. Ich denke, dies hat meine Fantasie sehr angeregt. Ich war immer schon ein Zuschauer. Gesprächig war ich nicht. Ich war eher still.
Mein erstes Mal auf der Bühne, ich war etwa fünf oder sechs, war in einem Ballettabend – ein Harem, der Sultan und seine Lieblingsfrauen. Der Sultan lag auf einem Divan mit vielen exotischen Früchten. Ich war als Mohr geschminkt und gekleidet, und musste ihm mit einem großen Fächer die ganze Vorstellung über Luft zuwedeln. Ein anderes Mal, in “Maske in Blau,” einer Operette, musste ich einen Zeitungsjungen spielen. Immer rufen: “Gazzetta San Remo, Gazzetta San Remo, Armando Cellini preisgekrönt.” Mir bereitete es ein großes Vergnügen, alles sehr genau zu machen. Ich habe dann die Tageszeitung “Solinger Tageblatt” genommen, den Titel überklebt und jede einzelne Zeitung ganz genau beschriftet mit “Gazzetta San Remo.” Das konnte zwar keiner sehen, aber für mich war es sehr wichtig. Ich habe in vielen Opern, Operetten, Tanzabenden mitspielen dürfen, am Ende sogar in den Tanzabenden als Teil der Gruppe. Für mich war immer klar: ich will nichts anderes, als mit dem Theater etwas zu tun haben. Nichts anderes, als tanzen.
Im Kinderballett gab es einmal eine Situation, dass wir etwas machen sollten, was ich überhaupt nicht verstanden habe. Ich war verzweifelt und schämte mich und weigerte mich, das zu versuchen. Ich sagte einfach: “Das kann ich nicht.” Die Lehrerin schickte mich darauf nach Hause. Ich quälte mich wochenlang; ich wusste nicht, wie ich es machen sollte, um zurückzukommen. Nach Wochen kam sie zu uns nach Hause und fragte, warum ich denn nicht mehr käme. Ab da ging ich natürlich immer wieder hin. Aber den Satz: “Das kann ich nicht.” – habe ich nie wieder gesagt.
Peinlich für mich waren manchmal die Geschenke meiner Mutter. Sie machte sich unendlich viel Mühe, mir etwas Besonderes auszusuchen. So bekam ich bereits mit 12 Jahren einen großen Pelzmantel – ich bekam die erste lange karierte Hose, die es gab – ich bekam grüne viereckige Schuhe. Aber ich wollte dies alles nicht anziehen. Ich wollte unauffällig sein.
Mein Vater war ein großer stattlicher Mann mit viel Humor und sehr viel Geduld. Er konnte wunderbar laut pfeifen. Ich habe mich als Kind immer gerne auf seinen Schoß gesetzt. Er hatte ungewöhnlich große Füße – Schuhgröße 50. Seine Schuhe mussten extra angefertigt werden. Auch meine Füße wurden immer größer. Als ich zwölf Jahre alt war, hatte ich 42. Da bekam ich Angst, dass sie noch wachsen könnten, dass ich dann gar nicht mehr tanzen könnte. Ich betete: “Lieber Gott, lass meine Füße nicht mehr wachsen.”
Einmal wurde mein Vater sehr krank, er musste zu einer Kur fahren. Ich war 12 Jahre alt. Zwei Nachbarn passten auf mich auf, und ich habe das Lokal ganz allein geschmissen. Ich habe zwei Wochen lang ganz allein die Kneipe gemacht, habe Bier gezapft, die Gäste versorgt. Ich habe dabei sehr viel gelernt. Ich fand das wichtig und auch sehr schön. Ich möchte die Erfahrung jedenfalls nicht missen.
Ich liebte es, Hausaufgaben zu machen. Ich empfand es als großen Genuss, besonders Rechenaufgaben. Nicht die Aufgaben selber, sondern sie zu schreiben und wie dann die Seite aussah.
Wenn Ostern war, mussten wir Kinder Ostereier suchen. Meine Mutter hatte Verstecke gefunden, nach denen ich tagelang suchen musste. Ich liebte es zu suchen und zu finden. Wenn ich sie gefunden hatte, wollte ich dass sie die Eier wieder versteckt.
Meine Mutter liebte es, barfuss im Schnee zu laufen. Und Schneeballschlachten mit mir zu machen oder Iglus zu bauen. Sie kletterte auch gerne auf Bäume. Und sie hatte große Angst während der Gewitter. Sie versteckte sich dann in der Garderobe hinter den Mänteln.
Überraschend waren immer die Reisepläne meiner Mutter. Sie wollte zum Beispiel gern mal zu Scotland Yard. Mein Vater liebte es sowieso, meiner Mutter alle Wünsche zu erfüllen – dann fuhren sie wirklich nach London.
Es gibt ein Foto, da sitzt mein Vater auf einem Kamel. Ich weiß aber nicht mehr, in welchem Land beide waren ...
Obwohl meine Mutter keine Ahnung von Technik hatte, war ich immer erstaunt, dass sie zum Beispiel ein Radio, das kaputt war, auseinander nahm, irgendwie reparierte und wieder zusammensetzte.
Bevor mein Vater das kleine Hotel mit der Gastwirtschaft in Solingen kaufte, war er Fernfahrer. Er stammte aus einer eher bescheidenen Familie im Taunus und hatte viele Schwestern. Zunächst machte er Transporte mit Pferd und Wagen. Später kaufte er einen Lastzug, mit dem ist er dann kreuz und quer durch ganz Deutschland gefahren. Er liebte es, von seinen Fahrten zu erzählen, und das Fernfahrerlied mit vielen, vielen Strophen laut zu singen.
Mein Vater hat nicht ein einziges Mal in seinem Leben mit mir geschimpft. Nur einmal, als es sehr ernst war, hat er nicht Pina zu mir gesagt, sondern mich mit Philippine, meinen eigentlichen Namen angesprochen. Mein Vater war jemand, auf den man sich ganz verlassen konnte.
Meine Eltern waren sehr stolz auf mich. Obwohl sie mich fast nie haben tanzen sehen. Sie haben sich auch nie sonderlich dafür interessiert. Aber ich fühlte mich sehr geliebt von ihnen. Ich brauchte nichts zu beweisen. Sie haben mir vertraut; sie haben mir nie Vorwürfe gemacht. Ich habe niemals Schuldgefühle haben müssen. Auch später nicht. Es ist das schönste Geschenk, das sie mir haben machen können.
Mit 14 Jahren ging ich zum Tanzstudium an die Folkwangschule nach Essen. Entscheidend für mich war dort die Begegnung mit Kurt Jooss. Er war einer der Mitbegründer dieser Schule und einer der ganz großen Choreographen.
Die Folkwangschule war ein Ort, an dem alle Künste unter einem Dach waren. Es gab nicht nur die darstellenden Künste wie Oper, Schauspiel, Musik, Tanz, sondern auch die Malerei, Bildhauerei, Fotographie, Grafik, Design und so weiter. In allen Abteilungen gab es außergewöhnliche Lehrer. Da hörte man auf den Fluren aus den Klassenräumen Töne und Melodien und Texte, da roch es nach Farbe und anderem Material. Jedes Eckchen war immer besetzt mit übenden Studenten. Und wir besuchten uns gegenseitig in den Abteilungen. Jeder hatte Interesse an der Arbeit des anderen. So entstanden auch viele verschiedene gemeinsame Projekte. Eine ganz wichtige Zeit für mich.
Kurt Jooss hatte hervorragende Lehrer in seiner Abteilung. Zusätzlich holte er Lehrer und Choreographen, die er sehr schätzte, vor allem aus Amerika, für Kurse oder längere Zeit nach Essen. Ich habe von ihnen viel gelernt.
Auf jeden Fall war es in der Ausbildung ganz wichtig, dass man eine Grundlage – eine breite Basis – hatte und dann, wenn man eine längere Zeit gearbeitet hatte, für sich selber finden musste, was man dann ausdrücken musste; was ich ausdrücken muss. Was habe ich denn zu sagen? In welche Richtung muss ich mich weiter entwickeln? Vielleicht ist hier der Grundstein gelegt worden für meine spätere Arbeit.
Jooss selber war etwas Besonderes für mich. Er hatte viel Herzenswärme und Humor und ein unglaubliches Wissen auf allen möglichen Gebieten. Durch ihn bin ich zum Beispiel überhaupt zum ersten Mal wirklich mit Musik in Berührung gekommen, weil ich aus unserer Kneipe nur Schlager kannte, die im Radio gespielt wurden. Er wurde wie ein zweiter Vater. Seine Menschlichkeit und seine Sicht, das war mir das Wichtigste. Was für ein Glück, dass ich ihm begegnet bin in einem entscheidenden Alter.
Während meines Studiums gab es eine Zeit, da hatte ich furchtbare Rückenschmerzen. Ich musste viele Ärzte aufsuchen. Das Resultat war, ich sollte sofort aufhören zu tanzen, sonst würde ich in einem halben Jahr an Krücken laufen müssen. Was sollte ich tun? Ich entschied, ich tanze weiter, auch wenn es nur für ein halbes Jahr sein sollte. Ich musste mich entscheiden, was für mich wirklich wichtig war.
1958 wurde ich für den Folkwang-Leistungspreis vorgeschlagen. Ich musste dafür ein eigenes kleines Programm haben. Der Tag der Präsentation kam. Ich musste auf die Bühne. Ich stellte mich in Position, das Licht ging an – und es passierte gar nichts. Der Pianist war nicht da. Große Aufregung im Saal, nirgendwo der Pianist. Ich stand weiterhin auf der Bühne in meiner Pose. Ich wurde immer ruhiger und blieb einfach stehen. Ich weiß nicht mehr, wie lange. Aber es war eine ziemlich lange Zeit, bis man den Pianisten gefunden hatte. Der war ganz woanders, in einem anderen Gebäude. Im Saal war man verblüfft, dass ich dort oben mit solcher Überzeugung und Ruhe so lange weiterhin in Pose stehen geblieben bin. Ich wuchs und wuchs. Als die Musik anfing, begann ich meinen Tanz. Ich habe schon damals feststellen können, dass in äußerst schwierigen Situationen mich eine große Ruhe überkommt und ich dann aus den Schwierigkeiten Kraft schöpfen kann. Eine Fähigkeit, der ich gelernt habe zu vertrauen.
Ich war heißhungrig zu lernen und zu tanzen. Deshalb bewarb ich mich, um ein Stipendium des DAAD für die USA. Das habe ich dann auch bekommen. Erst dann wurde mir klar, was das bedeutete. Ganz alleine, mit 18, ohne ein Wort Englisch zu können, mit dem Schiff nach Amerika zu fahren. Meine Eltern brachten mich nach Cuxhaven. Beim Abschied spielte eine Blaskapelle und alle Leute weinten. Dann ging ich auf das Schiff und winkte. Auch meine Eltern winkten und weinten. Und ich stand oben und weinte auch; es war furchtbar. Ich hatte das Gefühl, wir sehen uns nie wieder.
Ich habe dann auf dem Schiff noch einen kleinen Brief an Lucas Hoving in New York geschrieben und in Le Havre abgeschickt. Er war einer der Dozenten in Essen gewesen. Ich hatte die Hoffnung, dass er mich in New York abholen würde. Als ich dann nach acht Tagen in New York ankam, hatte ich mein Gesundheitszeugnis nicht in meiner Tasche, sondern im Koffer. So musste ich viele Stunden auf dem Schiff warten, bis die 1.300 Passagiere abgefertigt waren. Dann brachte man mich zu meinem Koffer. Ich glaubte schon nicht mehr, dass Lucas Hoving, wenn er überhaupt meinen Brief bekommen hatte, noch da war. Aber als ich vom Schiff herunter kam, stand er tatsächlich da. Und verwelkte Blumen hingen über seinem Arm, weil es so heiß war. Er hatte die ganze Zeit auf mich gewartet.
Das Leben in New York war anfangs nicht einfach. Weil ich kein Englisch sprach. Wenn ich essen wollte, ging ich in eine Cafeteria, denn da konnte ich auf das, was ich haben wollte, direkt zeigen. Einmal als ich bezahlen wollte, fand ich mein Portemonnaie nicht. Es war weg. Was sollte ich tun, wie sollte ich bezahlen? Eine schrecklich peinliche Situation. Nach einiger Zeit bin ich dann zur Kasse gegangen und habe versucht zu erklären, dass mein Portemonnaie weg ist. Dann habe ich meine Spitzenschuhe und meine anderen Schuhe aus meiner Tasche genommen, alles auf die Theke gelegt und erklärt, dass ich alles da lasse und wieder kommen werde. Der Mann an der Kasse hat mir ganz einfach fünf Dollar gegeben, damit ich nach Hause fahren konnte. Ich fand das unglaublich, dass er mir so vertraut hat. Ich bin dann immer wieder in diese Cafeteria gegangen, nur, um den Mann anzulächeln. Solche Situationen habe ich oft in New York erlebt, die Menschen waren so hilfsbereit.
In New York habe ich alles mitgenommen, was sich mir bot. Ich wollte alles lernen, alles erleben. Es war die große Zeit des Tanzes in Amerika: mit Georg Balanchine, Martha Graham, José Limón, Merce Cunningham... In der Juilliard School of Music, wo ich studierte, waren Lehrer wie Antony Tudor, José Limón, Tänzer der Graham Kompanie, Alfredo Corvino, Margarete Craske – auch mit Paul Taylor, Paul Sanasardo und Donya Feuer arbeitete ich unglaublich viel.
Fast täglich sah ich Vorstellungen. Es gab eine solche Fülle von Dingen, die alle wichtig und einmalig waren, dass ich beschloss, von dem Geld, das für ein Jahr gedacht war, mindestens zwei Jahre zu bleiben. Das hieß sparen!
Ich bin zu Fuß gelaufen. Ich habe mich eine lange Zeit fast nur von Icecream – Nusseis–ernährt. Dazu ein kleines Fläschchen Buttermilch, viel Zitrone, die auf den Tischen standen und sehr viel Zucker. Das alles vermischt schmeckte sehr gut. Eine wunderbare Hauptmahlzeit.
Aber das Dünner-Werden gefiel mir. Ich horchte immer mehr in mich hinein. In meine Bewegung. Ich hatte das Gefühl, dass irgendetwas immer purer, immer tiefer wurde. Vielleicht war es eine Einbildung. Aber es passierte eine Verwandlung. Nicht nur mit meinem Körper.
Im zweiten Jahr in New York hatte ich durch Antony Tudor, der damals Artistic Director an der Metropolitan Opera war, das Glück, engagiert zu werden. Die Met war wieder eine wichtige Erfahrung. Es war die Zeit, als die Callas leider gerade weg war. Man konnte sie aber noch spüren. Außer, dass ich viel tanzte, sah ich auch viele Opern oder habe die Sänger in der Garderobe über Lautsprecher gehört. Welche Freude ist es, Stimmen unterscheiden zu lernen. Genau zu hören.
Und dann ist da noch ein ganz besonderes Erlebnis: Als ich von meinem Europa-Aufenthalt zurückflog, um zur Met zu kommen, war das Flugzeug überbucht. Ich war eine von denen, die nicht mitfliegen konnten. Ich hatte in New York eine Verabredung mit einem Rechtsanwalt, der in meinem Pass etwas einfügen sollte, damit ich an der Met arbeiten durfte. Ich musste also unbedingt nach New York. Und dann habe ich, anstatt da zu warten, über Umwege einen Flug nach New York genommen. Fünfmal oder mehr musste ich umsteigen. Das war wahnsinnig: ein Flug nach Toronto, dann nach Chicago und so weiter, immer woanders hin – also, es war hoch kompliziert. Aber ich habe das irgendwie gemanagt. Der Flug hat sehr lange gedauert. Schließlich bin ich in New York angekommen, aber auf einem anderen Flughafen. Ich weiß gar nicht wie – aber ich habe es dann auch noch geschafft mit meinen wenigen Brocken Englisch, dass man mich von dort mit einem Hubschrauber zum richtigen Flughafen gebracht hat. Das haben sie dann auch gemacht. Das ist mir gelungen. Nach diesem Flug hätte man mich hinschicken können, wo auch immer hin. Ich hatte keine Angst mehr. Natürlich war das Gepäck nicht da. Das habe ich 14 Tage später bekommen. So bin ich nur mit meiner Handtasche angekommen.
Alles unerwartete Handlungen. Da war kein Plan. Ich wusste überhaupt nicht, dass ich so handeln konnte. Dass ich in der Lage war, das zu machen. Ebenso wenig, dass ich so auf der Bühne stehen konnte. Das ist einfach so passiert – ohne Überlegung. Man tut etwas, ohne es sich vorzustellen oder zu wünschen. Es ist irgendetwas anderes.
Nach zwei Jahren kam ein Anruf von Kurt Jooss. Er hatte die Möglichkeit, wieder ein kleines Ensemble, das Folkwang-Ballett, an der Schule zu haben. Er brauchte mich. Er bat mich zurückzukommen. Ich war damals in einem großen Konflikt zwischen dem Wunsch, in Amerika bleiben zu wollen, und dem Traum, in Choreographien von Jooss tanzen zu dürfen. Ich wollte beides so gerne. Ich war so gerne in New York, alles lief so wunderbar für mich. Doch ich kehrte nach Essen zurück.
Jooss hatte nun wieder eine Kompanie – das Folkwang-Ballett. Ich arbeitete weiterhin mit wunderbaren Lehrern und Choreographen. Jooss hat mir so viel Vertrauen und Verantwortung geschenkt, nicht nur in seinen alten und neuen Choreographien zu tanzen, sondern ihm auch helfen zu dürfen. Jedoch fühlte ich mich nicht ausgelastet. Ich hatte Hunger viel zu tanzen und den Drang, mich selbst auszudrücken... So begann ich Choreographien zu machen.
Einmal kam Jooss in die Probe und schaute zu und sagte: “Kind, was kriechst Du denn immer auf der Erde herum?” Um das, was mir am Herzen lag auszudrücken, war es für mich unmöglich, Bewegungsmaterial und Formen von anderen zu benutzen. Schon aus Respekt. Das Gesehene und Gelernte war irgendwie Tabu für mich. Ich brachte mich also selber in die Not: warum und wie kann ich etwas sagen.
Als er Essen verließ, habe ich die Verantwortung des so genannten Folkwang Tanzstudios übernommen. Die Arbeit und Verantwortung füllten mich sehr aus. Ich versuchte Gastspiele im Ausland zu organisieren. Machte kleine Choreographien. Zweimal wurde ich auch in Wuppertal eingeladen etwas zu machen. Und dann fragte mich Arno Wüstenhöfer, der Generalintendant der Wuppertaler Bühnen, die Leitung des Wuppertaler Balletts zu übernehmen. Ich wollte eigentlich nie ans Theater. Ich traute es mir nicht zu. Hatte auch viel Angst. Ich liebte die freie Arbeit. Aber er hat nicht aufgegeben und mich wieder und wieder gefragt, bis ich schließlich sagte: “Ich kann ja mal probieren.”
Damals, am Anfang – ich hatte ja eine große Gruppe und hatte in den Proben große Angst sagen zu müssen: “Das weiß ich nicht,” oder “Lass mal gucken.” Ich wollte sagen: “OK, wir machen das und das.” Ich plante alles sehr genau, aber bald merkte ich, dass mich außer dieser geplanten Arbeit auch ganz andere Sachen interessierten, die nichts mit meinen Planungen zu tun hatten. Nach und nach wusste ich… dass ich mich entscheiden musste: folge ich einem Plan oder lasse ich mich auf etwas ein, von dem ich nicht weiß, wohin es mich führt. Bei Fritz, meinem ersten Stück, bin ich noch einem Plan gefolgt. Danach habe ich das Planen aufgegeben. Seitdem lasse ich mich auf etwas ein, ohne zu wissen, wohin es geht.
Eigentlich wollte ich immer nur tanzen. Ich musste und musste tanzen. Das war die Sprache, mit der ich mich ausdrücken konnte. Auch in meinen ersten Choreographien in Wuppertal dachte ich natürlich, dass ich in Sacre das Opfer, in Iphigenie die Rolle der Iphigenie zum Beispiel selber tanzen würde. Diese Rollen waren alle mit meinem Körper geschrieben. Aber die Verantwortung als Choreographin hat immer wieder den Drang zu tanzen aufgeschoben.
So ist es einfach gekommen, dass ich eigentlich meine Liebe, die ich in mir habe, diesen großen Wunsch zu tanzen, an andere weitergegeben habe.
Für das Publikum war unser Neubeginn ein krasser Wechsel. Mein Vorgänger hatte in Wuppertal klassisches Ballett gemacht und wurde vom Publikum sehr geliebt. Es wurde eine bestimmte Ästhetik erwartet, dass es daneben noch andere Formen von Schönheit gab, stand nicht zur Debatte.
Die ersten Jahre sind sehr schwer gewesen. Immer wieder verließen einige Zuschauer Türe knallend den Raum, andere pfiffen oder buhten. Manchmal bekamen wir im Probenraum Anrufe mit bösen Wünschen. Bei einem Stück bin ich in den Zuschauerraum gegangen mit vier Personen als Schutz. Ich hatte Angst. Bei einem Stück stand in der Zeitung: “Die Musik ist sehr schön. Sie können ja die Augen schließen.” Auch das Orchester und der Chor haben es mir sehr schwer gemacht. Ich wollte mit dem Chor so gerne etwas entwickeln. Sie haben sich jeder Idee verweigert. Am Ende habe ich es erreicht, dass der Chor aus den Logen – aus dem Publikum heraus – sang, das war dann sehr schön.
Als wir einen Brecht-Weill-Abend machten, meinten manche Musiker des Orchesters: “Das ist doch keine Musik.” Man dachte einfach, dass ich jung war, unerfahren – mit mir kann man alles machen. Das hat sehr wehgetan. Aber all das konnte mich nicht abhalten zu versuchen, etwas, was mir wichtig war, so gut wie ich konnte auszudrücken. Ich habe niemals provozieren wollen. Eigentlich habe ich nur versucht, über uns zu sprechen. Die Tänzer sind voller Stolz diesen schweren Weg mit mir gegangen. Aber manchmal gab es auch riesige Schwierigkeiten. Manchmal sind mir Szenen gelungen, wo ich froh war, dass es solche Bilder gab. Aber einige Tänzer waren schockiert. Sie schrieen und schimpften mit mir. Es sei unmöglich, was ich da mache.
Als wir Sacre machten – die Besetzung des Orchesters ist so groß – das sie nicht in unseren Orchestergraben passte. Also haben wir Sacre mit Tonband gemacht. Mit einer wunderbaren Version von Pierre Boulez.
Bei Blaubart konnte ich meine Idee überhaupt nicht verwirklichen, weil man mir einen Sänger, den ich übrigens schätzte, zur Verfügung stellte, der nun überhaupt kein Blaubart war. In meiner Not überlegte ich mit Rolf Borzik eine total andere Idee. Wir konstruierten eine Art Wagen mit einem Tonbandgerät, das mit einem lange Kabel an der Decke des Raumes befestigt war. Dieser Wagen konnte Blaubart nun schieben und mit ihm laufen, wohin er wollte. Er konnte die Musik zurückspulen und einzelne Sätze wiederholen. So konnte er durch das Vor- und Rückspulen sein Leben untersuchen.
Um die Probleme mit Chor und Orchester zu umgehen, habe ich beim nächsten Stück Komm tanz mit mir ausschließlich schöne, alte Volkslieder benutzt, die je eine Tänzerin selber sang – begleitet nur von einer Laute.
Im nächsten Stück, Renate wandert aus, gab es nur noch Musik vom Band, und nur in einer Szene spielte unser alter Pianist im Hintergrund. So hat sich eine ganz andere neue Welt von Musik eröffnet.
Inzwischen ist der ganze Reichtum der Musiken aus so vielen verschiedenen Ländern und Kulturen zu einem festen Bestandteil unserer Arbeit geworden. Aber auch die Zusammenarbeit mit Orchester und Chor – etwa bei Wiederaufnahmen – weckt nun bei allen eine große Neugier und Lust auf neue Möglichkeiten.
Neu war auch die Arbeitsweise mit den Fragen. Schon in Blaubart hatte ich angefangen, für manche Rollen Fragen zu stellen. Später, beim Macbeth-Stück Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloß, die andern folgen in Bochum habe ich diese Arbeitsweise dann weiterentwickelt. Da gab es vier Tänzer, vier Schauspieler, eine Sängerin...und einen Konditor. Da konnte ich natürlich nicht mit einer Bewegungsphrase kommen, sondern musste anderswo anfangen. Also habe ich ihnen die Fragen gestellt, die ich an mich selber hatte. So ist die Arbeitsweise aus einer Not heraus entstanden. Die “Fragen” sind dazu da, sich ganz vorsichtig an ein Thema heranzutasten. Das ist eine ganz offene Arbeitsweise und doch eine ganz genaue. Sie führt mich zu vielen Dingen hin, an die ich alleine gar nicht hätte denken können.
Die ersten Jahre waren sehr schwer für mich. Das hat auch geschmerzt. Aber ich bin kein Mensch, der einfach aufgibt. Ich laufe nicht weg, wenn eine Situation schwierig ist. Ich habe immer weiter gearbeitet. Ich konnte gar nicht anders. Ich habe weiter versucht, etwas zu sagen und zu tun, wie ich dachte, ich musste es versuchen.
Ein Mensch hat mir dabei besonders geholfen: Rolf Borzik. Orpheus und Eurydike war unsere erste gemeinsame Arbeit in Wuppertal. Rolf Borzik und ich haben nicht nur zusammen gearbeitet, sondern auch zusammen gelebt. Wir haben uns schon während des Studiums an der Folkwangschule in Essen kennen gelernt. Er hat Grafik studiert. Er war ein genialer Zeichner, aber auch Fotograf und Maler. Und schon während der Studienzeit hat er alle möglichen Erfindungen gemacht. Zum Beispiel ein Fahrrad entwickelt, mit dem man auf dem Wasser fahren konnte und das dann immer eingeknickt ist. Er interessierte sich für alle technischen Dinge, die Entwicklung von Flugzeugen oder Schiffen. Er war ein unglaublich kreativer Mensch. Er hätte nie gedacht, dass er Bühnenbildner wird. So wie ich nie daran gedacht habe, Choreografin zu werden. Ich wollte ja tanzen. Es ist einfach bei uns beiden so gekommen.
Die Zusammenarbeit war sehr intensiv. Wir haben uns gegenseitig inspiriert. Tausende von Ideen haben wir bei jedem Stück gehabt, viele Entwürfe gemacht. Wir konnten uns auf einander verlassen bei allen Fragen, Versuchen, Zweifeln, auch Verzweiflungen beim Prozess des Entstehens eines neuen Stückes. Rolf Borzik war immer dabei bei den ganzen Proben. Er war immer da. Er hat mich immer unterstützt und beschützt. Und seine Fantasie war unendlich.
Für die Sieben Todsünden ging er mit Bühnentechnikern aus dem Theater in die Stadt, machte dort den Abguss einer Straße, um sie so realistisch auf die Bühne zu bringen. Er holte als erster Bühnenbildner die Natur auf die Bühne – Erde bedeckte den Bühnenboden für das Frühlingsopfer, Laub für Blaubart, Bäume, Gestrüpp, Reisig für Komm tanz mit mir und schließlich Wasser für Arien – alles Stücke aus den siebziger Jahren. Das waren kühne und schöne Entwürfe. Auch die Tiere, die auf der Bühne auftauchten – das Nilpferd, die Krokodile – waren seine Erfindung. Und immer hieß es in den Werkstätten des Theaters zunächst einmal: “Das geht doch gar nicht.” Aber Rolf Borzik wusste immer, wie es ging. Er hat alles möglich gemacht. Er selbst hat einmal seine Bühnenräume “freie Aktionsräume” genannt, Räume, so sagte er, “die uns zu frohen und grausamen Kindern machen.” Die Tänzerinnen und Tänzer verehrte und liebte er alle ganz besonders. Seine Fotos von Proben und Aufführungen sind sehr nah, sehr zärtlich. So konnte keiner sehen.
Sein letztes Bühnenbild machte er für das Stück Keuschheitslegende. Da wussten wir schon lange, dass er nicht mehr lange leben würde. Aber diese Keuschheitslegende ist kein tragisches, trauriges Stück. Rolf Borzik wollte es so, wie es wurde: mit einem Gefühl von Lust zum Leben und zur Liebe. Im Januar 1980 ist Rolf Borzik nach langer Krankheit gestorben. Er wurde 35 Jahre alt.
Ich wusste sofort, dass ich nicht in Trauer versinken durfte. Dieses Bewusstsein gab mir Kraft. Es war auch im Sinne von Rolf, dass ich weiterarbeiten musste. Ich hatte das Gefühl, wenn ich jetzt nichts mache, dann werde ich nie wieder etwas machen. Ich wusste, dass ich meiner Trauer, meinem Respekt eine Form geben konnte, indem ich ein neues Stück machte.
Das Stück hieß 1980. Wie immer haben wir in den Proben viele Fragen – auch Fragen zurück in die Kindheit–gestellt. Ich hatte den Bühnenbildner Peter Pabst, der mit vielen Regisseuren – sowohl für Theater, als auch für den Film arbeitete, gefragt, mit mir diese Arbeit zu machen. Es war für mich ein großes Glück, dass er einwilligte, das Bühnenbild für das Stück 1980 zu machen.
Peter Pabst und ich lassen uns jetzt schon mehr als 27 Jahre jedes Mal wieder mit große Lust auf das Abenteuer ein, ein Stück zu machen, das es noch nicht gibt. Aber nicht nur das. Peter Pabst ist für mich nicht nur als Bühnenbildner wichtig, sondern ist, durch seinen Rat und sein Tun, für uns alle und für viele Belange des Tanztheaters unentbehrlich geworden. Viele, viele Bühnenräume sind entstanden.
Zum Beispiel: – der Vorhang geht auf–eine Mauer – die Mauer fällt–Krach – Staub; wie gehen Tänzer damit um? – Oder man kommt in den Zuschauerraum: Wiese–Geruch von Gras – Mücken; alles, was passiert, ist sehr leise. – Wasser: es spiegelt sich; es spritzt; es macht Geräusche. Kleider werden nass und kleben am Körper. – Oder: Schnee fällt – es könnten auch Blüten sein.... Jedes neue Stück ist eine neue Welt.
Dass er und meine Tänzerinnen und Tänzer einen so langen und schwierigen Weg mit mir gegangen sind und weiter mit großem Vertrauen zu mir gehen, dafür bin ich sehr dankbar. Sie sind alle Perlen. Jeder auf seine Weise, jeder in unterschiedlicher Form. Ich liebe meine Tänzer. They are beautiful. And I am trying to show how beautiful they are inside.
Ich liebe meine Tänzer, jeden auf eine andere Art und Weise. Es liegt mir am Herzen, dass man diese Menschen auf der Bühne wirklich kennen lernen kann. Ich finde es sehr schön, wenn man sich am Ende einer Vorstellung jedem ein wenig näher fühlt, weil er etwas von sich gezeigt hat. Das ist etwas sehr Wirkliches. Wenn ich einen Tänzer engagiere, dann hoffe ich natürlich, einen guten Tänzer gefunden zu haben, aber ansonsten ist es etwas Unbekanntes. Da gibt es nur das Gefühl: da ist etwas, worüber ich wahnsinnig gerne mehr wissen möchte. Ich versuche, jeden zu unterstützen, von sich aus Dinge zu finden, die er von sich selber nicht kennt. Bei manchen geht es sehr schnell, bei anderen dauert es Jahre, bis sie plötzlich aufblühen. Bei einigen, die schon sehr lange tanzen, ist das fast wie ein zweiter Frühling, so dass ich richtig staune, was da alles zum Vorschein kommt. Statt dass es abnimmt, wird es immer mehr.
Es gehört zu den schönsten Aspekten in unserer Arbeit, dass wir schon seit so vielen Jahren in den unterschiedlichsten Ländern arbeiten können. Die Idee des Teatro Argentina in Rom, in Zusammenarbeit mit uns ein Stück zu machen, das durch in Rom gemachte Erfahrungen entstehen sollte, war für meine weitere Entwicklung und Arbeitsweise von entscheidender, ich könnte sagen schicksalhafter Bedeutung. Denn seitdem sind fast alle unsere Stücke aus der Begegnung mit anderen Kulturen in Koproduktionen entstanden. Sei es Hongkong, Brasilien, Budapest, Palermo, Istanbul...und auch mit ihrem wunderschönen Land. – Das Kennenlernen mir vollkommen fremder Gebräuche, Musiken, Gewohnheiten hat dazu geführt, in den Tanz das zu übersetzen, was uns unbekannt ist und dennoch allen gehören sollte. Dieses Kennenlernen des Unbekannten, um es zu teilen und es ohne Angst zu erleben, hat in Rom angefangen. Begonnen hat es damals mit Viktor. Inzwischen gehören die Koproduktionen einfach zum Tanztheater. Unser Netzwerk wird immer größer.
Ich habe einmal von Indianern auf einem Paw Waw in Nordamerika den Rippenknochen von einem Büffel erstanden. Dieser Knochen ist mit ganz vielen winzig kleinen Zeichen beschriftet. Ich habe dann erfahren, dass jeder, der einen Teil erworben hat – genau wie ich – seine Adresse in ein Buch geschrieben hat. So hat sich dieser Büffel überall hin ausgedehnt. Wir alle zusammen bilden auch so ein Netzwerk – wie dieser Büffel, der sich auf der ganzen Welt ausbreitet. So gehört auch alles, was uns bei unseren Koproduktionen beeinflusst und in die Stücke einfließt, für immer zum Tanztheater dazu. Wir nehmen es überall hin mit. Es ist ein bisschen so, als ob man heiratet und nachträglich miteinander verwandt wird.
Auch als Kompanie sind wir ganz international. So viele verschiedene Persönlichkeiten aus ganz unterschiedlichen Kulturen...Wie wir uns gegenseitig beeinflussen, inspirieren, voneinander lernen... So reisen wir nicht nur – wir selber sind schon eine Welt für sich. Und diese Welt wird ständig neu durch Begegnungen, neue Erlebnisse bereichert.
1980 lernte ich Ronald Kay, meinen Lebenspartner, während einer Gastreise in Santiago de Chile kennen. Ein Dichter, Professor für Ästhetik und Literatur an der Universidad de Chile. Seit 1981, dem Geburtsjahr unseres gemeinsamen Sohnes Rolf Salomon, leben wir in Wuppertal zusammen. Nachdem ich erleben musste, wie ein Mensch stirbt, habe ich auch erleben dürfen, wie ein Mensch geboren wird. Und wie sich dadurch die Sicht auf die Welt verändert. Wie ein Kind die Dinge erlebt. Wie vorurteilslos es alles betrachtet. Welches selbstverständliche Vertrauen es in einen setzt.
Überhaupt zu begreifen: Ein Mensch wird geboren. Unabhängig davon zu erleben, wie und was alles im eigenen Körper passiert, wie er sich verändert. Alles geschieht, ohne dass ich etwas dazu tue. Und wie all dieses auch wieder in meine Stücke und meine Arbeit einfließt.
Es ist ein besonderer und schöner Zufall, dass ich seit über dreißig Jahren in Wuppertal lebe und arbeite. In einer Stadt, die ich seit meiner Kindheit kenne. Ich bin gerne in dieser Stadt, weil sie eine Alltagsstadt ist, keine Sonntagsstadt. Unser Probenraum ist die ‘Lichtburg,’ ein ehemaliges Kino aus den Fünfziger Jahren. Wenn ich in die ‘Lichtburg’ gehe, an einer Bushaltestelle vorbei, dann sehe ich fast täglich viele, die sehr traurig und müde aussehen. Und auch diese Gefühle sind in unseren Stücken aufgehoben.
Ich habe einmal gesagt: Mich interessiert nicht, wie die Menschen sich bewegen, sondern, was sie bewegt. Dieser Satz ist viel zitiert worden – er ist bis heute gültig.
Seit vielen Jahren werden wir zu Gastspielen in alle Welt eingeladen. Die Reisen und Einladungen in fremde Kulturen haben uns sehr bereichert. Aus vielen Begegnungen sind wunderbare Freundschaften erwachsen. Und so viele Erlebnisse sind unvergesslich. Einmal haben wir Fensterputzer in Istanbul gespielt. An einer Stelle im Stück zeigen die Tänzerinnen Fotos von früher: Bilder aus der Kindheit, von den Eltern... Sie sagen dazu: “Das ist meine Mutter.” – ”Das bin ich, als ich zwei Jahre alt war.” Später zeigen sich alle gegenseitig ihre Privatfotos und gehen damit ins Publikum, um sie auch den Zuschauern zu zeigen. Plötzlich holten auch die Zuschauer ihre Fotos heraus – das war unbeschreiblich: wie sich alle bei wunderschöner Musik ihre Fotos gezeigt haben. Viele haben geweint....
Durch diese und viele, viele Erlebnisse werden wir reich beschenkt. Und jedes Mal versuche ich, durch die Stücke ein klein wenig zurückzugeben. Aber jedes Mal habe ich das Gefühl, dass es gar nicht ausreicht... Was kann man zurückgeben? Wie kann man etwas zurückgeben? Manchmal habe ich das Gefühl, es geht gar nicht. Ich empfinde so viel, und was ich zurückgeben kann, ist so klein....
So sind meine Ängste vor jeder neuen Premiere bis heute geblieben. Wie sollte es auch anders sein? Es gibt keinen Plan, kein Drehbuch, keine Musik, kein Bühnenbild. Aber einen Termin für die Premiere und wenig Zeit. Dann denke ich: Es ist überhaupt kein Vergnügen, ein Stück zu machen. Ich möchte nie wieder eines machen. Jedes Mal ist es eine Qual. Warum tue ich mir das immer wieder an? Nach so vielen Jahren habe ich es immer noch nicht gelernt. Mit jedem Stück muss ich wieder von vorne anfangen. Das ist schwer. Immer habe ich das Gefühl, ich erreiche nie, was ich erreichen will. Aber kaum ist eine Premiere vorbei, bin ich schon bei den nächsten Plänen. Woher kommt diese Kraft? Ja, Disziplin ist wichtig. Man muss einfach weiter arbeiten und plötzlich entsteht dann etwas – etwas sehr Kleines – . Ich weiß nicht, wohin das führt, aber es ist, als ob jemand ein Licht anzündet. Man hat wieder Mut weiterzuarbeiten und ist wieder aufgeregt. Oder jemand macht etwas ganz Schönes. Und das gibt einem die Kraft, so hart – aber mit Lust – weiterzuarbeiten. Es kommt von innen.
Inzwischen bin ich einen weiten Weg gegangen. Zusammen mit meinen Tänzerinnen und Tänzern, mit allen Mitarbeitern. Ich habe in meinem Leben so viel Glück gehabt, vor allem durch unsere Reisen und Freundschaften. Das wünsche ich ganz vielen Menschen: andere Kulturen und Lebensweisen kennen zu lernen. Es gäbe viel weniger Angst voreinander, und man könnte viel deutlicher sehen, was uns alle miteinander verbindet. – Ich denke, es ist wichtig zu wissen, in welcher Welt man lebt.
Die phantastische Möglichkeit, die wir auf der Bühne haben, ist die, dass wir dort Dinge tun dürfen, die man im normalen Leben gar nicht machen kann und darf. Manchmal können wir etwas nur dadurch klären, dass wir uns dem stellen, was wir nicht wissen. Und manchmal bringen uns die Fragen, die wir haben, zu Erfahrungen, die viel älter sind, die nicht nur aus unserer Kultur stammen und nicht nur von hier und von heute handeln. Es ist so, als bekämen wir dadurch ein Wissen zurück, das wir zwar immer schon haben, das uns aber gar nicht bewusst und gegenwärtig ist. Es erinnert uns an etwas, das uns allen gemeinsam ist. Das gibt uns eine große Kraft.