Interview mit Dominique Mercy, 9.5.2022 (3/3)
Dies ist das dritte und letzte Interview, das mit Dominique Mercy im Jahr 2022 aufgezeichnet wurde. In diesem Interview erinnert er sich an Rolf Borzik und seine enge künstlerische Zusammenarbeit mit Pina Bausch. Er erklärt, wie die Ideen zum Bühnenbild, zu den Kostümen und dem Tanz miteinander interagierten. Wie seine Emotionen und Erinnerungen seine Rolle im Stück Bandoneon beeinflusst haben, verrät er ebenfalls. Er spricht über tänzerische Qualitäten in der Ausbildung, die er an der Folkwang Schule unterrichtet hat. Zum Schluss teilt er seine Erfahrungen über die Arbeit mit Live-Musik in Café Müller und Das Frühlingsopfer sowie den Prozess der Weitergabe von Rollen an die nächste Generation.
Interviewte Person | Dominique Mercy |
Interviewer:in | Ricardo Viviani |
Kamera | Sala Seddiki |
Permalink:
https://archives.pinabausch.org/id/20220509_83_0001
Inhaltsübersicht
Kapitel 1.1
Skizzen auf ServiettenRicardo Viviani:
Wir haben eigentlich wenig Material über Rolf Borzik. Er war möglicherweise keine Person, die Interviews geben würde. Es gibt kein einziges Interview mit ihm.
Dominique Mercy:
Ja, wahrscheinlich gab es zu dieser Zeit noch nicht den Gedanken, solches Material zu sammeln, und der Fokus lag ganz auf Pina Bausch. Nicht dass Rolf erst nach und nach dazu kam, er war ein sehr wichtiger und bedeutender Mitarbeiter hinter Pina.
Ricardo Viviani:
Welche Empfindlichkeiten waren da im Spiel? Haben sie zusammengearbeitet?
Dominique Mercy:
Ich denke, Rolf Borzik war überaus präsent. Sie teilten ihr Leben mit Höhen und Tiefen. Rolf war von Anfang an sehr in Pinas Arbeit involviert. In den ersten Arbeiten, auch wenn er nicht offiziell daran beteiligt war, wie in Fritz oder Iphigenie auf Tauris, waren schon Anregungen von ihm drin. Sie tauschten ständig Ideen und Konzepte aus. Wir saßen oft nach den Proben entweder in der Wohnung, in Restaurants oder Bars und wir sprachen über jedes Detail, über alles. Ideen kamen einfach auf, sehr oft zeichnete er auf eine Serviette im Restaurant. Es gibt viele seiner Skizzen, die er auf Servietten von Restaurants gemacht hat. Ich denke, dass die Tatsache, dass er ein so enger Mitarbeiter wurde und kreativ so eng mit Pina verbunden war, hat sich organisch mit der Zeit entwickelt. Irgendwann war klar, dass diese beiden Künstler ihre Ideen mischen und zusammenfügen mussten. Es war nicht nur Rolf Borzik, Jan Minarik wäre auch eine sehr schöne, authentische Informationsquelle. Er war einer der engsten Freunde von Rolf. Auch was ihr Interesse an Fotografie angeht, Jan Minarik hat viele schöne, interessante Bilder gemacht, ebenso Rolf. Sie tauschten sich also viel darüber aus. Darüber hinaus war Rolf nicht nur an der Raum- oder Bühnengestaltung interessiert, er brachte auch viele Ideen zu Kostümen mit, zu vielen Dingen: zu Requisiten und Objekten. Es war schwer zu sagen, ob eine Idee von Pina oder von Rolf kam. Natürlich spreche ich nicht von der Choreografie, aber ich denke, es ist falsch zu glauben, dass es Rolf nur um die Bühnenbilder ging. Sein Einfluss war viel breiter, größer als das, und doch beeinflusste er die Bühnenbilder. Das Bühnenbild hatte Konsequenzen und beeinflusste das Verhalten der Menschen. Wie die trockenen Blätter, die Herbstblätter in Blaubart. In Blaubart gibt es dieses ständige Geräusch von Menschen, die die Blätter hinter sich herziehen, gehen, tanzen, sich bewegen. In Arien mit dem Wasser macht es einen Unterschied, ob du dich in trockener Kleidung oder in völlig nasser Kleidung auf einer Oberfläche mit drei, vier Zentimetern Wasser bewegen, tanzen und schauspielern musst. Es macht einen großen Unterschied, wie du dich verhältst, genauso wie der Lärm. Ich denke, dass die Tatsache, dass man natürliche Elemente in einen Innenraum, wie eine Bühne, bringt, zusätzliche und andersartige Eindrücke erzeugt. In Arien zum Beispiel spürt man, wenn man den Raum betritt, diese Feuchtigkeit, diese Wärme, die das Wasser abgibt, weil es eine bestimmte Temperatur haben muss. Das Geräusch, das Menschen machen, wenn sie anfangen zu gehen, ich meine nicht das Tanzen, sondern allein durch das Gehen im Wasser entsteht eine visuelle und eine akustische Umgebung im Raum. Es ist anders, wenn man dasselbe in der Natur macht. Wenn man es in einem geschlossenen Raum hat, entsteht eine andere Dimension. All diese Dinge wurden später von vielen Regisseuren im Theater und auch im Tanz wiederholt, aber zu dieser Zeit war er wirklich einer der ersten, der es wagte, das irgendwie auf der Bühne zu tun. Soweit ich mich erinnere, gab es vielleicht schon ein paar Leute, die das gemacht haben, aber ich glaube nicht. Ich denke, wir haben da wirklich Pionierarbeit geleistet. Jetzt macht es jeder irgendwie auf die eine oder andere Weise.
Ricardo Viviani:
Weil die Bühnenbilder und all das — das Wasser und alles — die Qualität der Bewegung verändert haben, musste Pina das akzeptieren und damit irgendwie arbeiten.
Dominique Mercy:
Genau das meinte ich. Sie tauschten Ideen aus und hatten wirklich großes Vertrauen zueinander. Der Umfang des Bereichs, an dem Rolf beteiligt war und in dem er Ideen mit Pina austauschte, war ganz allgemein. Ohne irgendeinen Vergleich anstellen zu wollen, arbeitete Peter Pabst danach weiter mit der Idee, natürliche Elemente einzubringen und Innenräume mit Teilen zu haben, die das Geschehen und das Dasein auf der Bühne beeinflussen würden: wie die Steine der Mauer in Palermo Palermo, Wasser in verschiedenen Werken und Felsen; all das beeinflusst unser Dasein auf der Bühne. Diese Elemente waren quasi eine Fortsetzung dessen, was Rolf Borzik zusammen mit Pina begonnen hatte. Ich möchte hinzufügen, dass Rolf im guten Sinne viel invasiver war als Peter Pabst. Peter hatte zu Beginn Ideen oder Vorschläge für Kostüme. Aber bei seiner Zusammenarbeit mit Pina ging es, soweit ich das beurteilen kann, hauptsächlich um den Raum, um die Umgebung: Wie wird das Stück in das Bühnenbild passen? Wie wird es sich gegenseitig beeinflussen? Der Tänzer beeinflusst das Bühnenbild oder das Bühnenbild beeinflusst den Tänzer. Was eine sehr wertvolle und schöne Sache ist. Aber Rolf Borzik saß die meiste Zeit in den Proben, er sah sich jede Probe an, so oft er konnte. Er war auch derjenige, der die meisten Kostüme entwarf oder Ideen für Requisiten und Objekte mitbrachte. Dies beeinflusste die Arbeit oder wirkte auf die Bühnensituation ein. Rolf Borzik hatte also eine große Rolle: Er teilte die kreative Arbeit mit Pina Bausch.
Ricardo Viviani:
Du hast das Wasser erwähnt, die Luftfeuchtigkeit im Raum, den Geruch der Blätter, das Geräusch raschelnder Blätter...
Dominique Mercy:
Tiere auf die Bühne bringen: das Nilpferd in Arien, die Krokodile in Keuschheitslegende. Ich erinnere mich, dass sich eine seiner Zeichnungen auf Tiere bezieht — ich habe vergessen, welches Stück — es ist ein gelbes Kleid mit schwarzen Streifen, das auf eine fleißige Biene verweist. Du kannst sehen, dass es viele Zeichnungen gibt: eine Vielfalt, die uns ein besonderes Kostüm für besondere Ideen, besondere Menschen, verschiedene Arten des Seins verleiht.
Ricardo Viviani:
Die Stücke von Pina Bausch sind sorgfältig komponiert. Jedes Detail ist festgelegt: Die Luftfeuchtigkeit, die Musik, die von rechts oder von links kommt, eine Kleinigkeit, die da passiert. Ich sehe auch die Innovation in der Welt des Theaters oder des Tanzes. Immer mehr sieht man bei Pina Bausch: eine feine Sensibilität, bei der sie dem Publikum beibrachte, tiefer zu schauen. Hast du bei ihr eine Entwicklung gespürt, in dem Sinne wie sorgfältig sie [bei der Komposition] im Laufe der Jahre vorgegangen ist?
Dominique Mercy:
Mit der Zeit wurde es klar, dass Pinas Stücke einerseits eine sehr filmische Seite haben — sagen wir mal so. Deshalb ist es sehr schwierig zu filmen, natürlich abhängig von den Szenen, aber es gab einige Momente in einigen Stücken, in denen viele Dinge gleichzeitig passieren. Sie sind alle wichtig und beeinflussen sich gegenseitig. Als Publikum hast du die Wahl, dorthin zu sehen, wohin du willst. Du hast ein allgemeines, breites Spektrum von Menschen, du kannst in die eine oder in die andere Richtung schauen, aber an einem Punkt musst du eine Wahl treffen, es ist deine Entscheidung. Und wenn du mehr sehen willst, kommst du ein weiteres Mal, du schaust dir vielleicht dieselben Dinge an, weil sie für dich attraktiver sind, aber du hast die Möglichkeit, viele verschiedene Dinge zu sehen.
Ricardo Viviani:
Das Publikum sieht sich mit der Komplexität der Szene konfrontiert und mit der Schwierigkeit, sie zu filmen...
Dominique Mercy:
Denn wenn du das filmst, muss der Kameramann oder der Regisseur die Entscheidung für dich treffen und zwingt dich, eine bestimmte Sichtweise zu haben. Ich glaube, ich entferne mich gerade von deiner Frage, aber es ist okay. Es ist ein bisschen mit Wim Wenders passiert, als er den Film Pina gedreht hat. Ich war mit seinen Entscheidungen und den Stücken, die er ausgewählt hat, nicht ganz einverstanden, und vielleicht lag es an der 3D-Darstellung. Ich dachte immer, es wäre interessant, Pinas Stücke von innen zu filmen, obwohl es eine sehr schwierige Entscheidung ist. Eigentlich sind alle Stücke von Pina dafür gemacht, von vorne gesehen zu werden. Auch wenn einige von ihnen draußen gemacht wurden, wie Café Müller oder Sacre, mit dem Publikum, das die Szene umgab, so dass sie fast ein Teil des Bühnenbildes waren wie in Avignon. Da hattest du das Publikum auf der Bühne an der Außenseite der Glaswand. Dort gab es eine andere Perspektive als für die Leute, die vorne waren, also weiß ich nicht, welchen Eindruck es für sie aus ihrer Perspektive gemacht hat. Die meisten Stücke von Pina sind also dafür gemacht, von vorne gesehen zu werden. Die Formationen sind dafür gemacht, von vorne betrachtet zu werden, der Zeitpunkt, zu dem Leute rein oder raus kommen, alles ist so, weil sie im Mittelpunkt des Hauses steht.
Kapitel 1.2
Über StückentstehungenRicardo Viviani:
Sie schärfte unsere Augen als Publikum, um mehr und mehr Details zu sehen.
Dominique Mercy:
Ja, mit Pina hast du gelernt — oder auch nicht, je nach Person —, ein Gefühl für Timing und Raum zu bekommen. Denn für sie war das Timing sehr wichtig, etwa die Zeit, die man sich nimmt, um reinzukommen. Wo fängst du an, reinzukommen? Dies bezieht sich auf die Erfahrung, die sie mit Anthony Tudor gemacht hat. Sie liebte es, ein Erlebnis zu erwähnen, das sie mit Tudor gemacht hat, ich glaube, es war bei Lilac Garden, nun, es spielt keine Rolle, welches Stück. Anthony Tudor stellte einem Tänzer, der auf die Bühne kam, die Frage: „Was ist draußen passiert? Was ist auf der anderen Seite passiert?“ Zu wissen, woher du kommst, wann du auf die Bühne kommst und wohin du gehst. Und ich denke, das ist etwas, wozu Pina dich gebracht hat, ohne es wirklich zu erklären oder zu fordern, dieses Gefühl haben. Es ist anders, ob du am Rand des Vorhangs nur darauf wartest, auf die Bühne zu kommen, oder ob du einen, zwei oder drei Schritte zurücktrittst. Und wie bereitest du dich vor, bevor du hineingehst? Es gibt Situationen, in denen du einfach so reinkommen musst, und es gibt Situationen, in denen du vorher etwas erlebt haben musst. Das war für mich sehr offensichtlich und sehr stark in Pinas Arbeit. Dieses Timing vor und auf der Bühne, und auch die Frage, wo platzierst du dich, wie bereitest du dich darauf vor? Und wenn du in einer Situation auf der Bühne bist, dieser Punkt, an dem du einfach dort bleiben musst, oder du spürst, dass du dich ein bisschen bewegen musst. Nicht nur an der Stelle zu sein, die dir gesagt wurde, sondern auch, eine physische Beziehung zu dem Raum und den Menschen um dich herum zu haben. Nicht nur da zu sein, weil dir jemand gesagt hat: „Dort möchte ich, dass du bist“, selbst wenn du nur einen Stuhl auf die Bühne stellen musst. Hans Züllig hat das in einem Dokumentarfilm sehr schön gesagt. Er sagt, es heiße oft, Pina sei eine sehr gute Choreografin gewesen, und es scheine alles so einfach zu sein, aber im Gegenteil, es war etwas, das [großes Können erfordert] — er sagte auf Deutsch „es ist ein großes Können“. Im Hintergrund steckt viel Wissen darüber, wie man den Raum ausfüllt, ein Gefühl dafür zu haben, wie der Raum ausgefüllt werden muss, und auch über den Zeitpunkt, wie man hineinkommt und wie man herausgeht. Manchmal bat sie dich, etwas zu tun, und du musstest zwei- oder dreimal darüber nachdenken, warum sie dich darum gebeten hat. Weil du manchmal dachtest: „Warum gehe ich nicht direkt dorthin“, aber sie hat dich gebeten, zuerst zu kommen, dir vielleicht etwas Zeit zu nehmen, um an den Ort zurückzukehren – du hättest es sofort tun können, aber nein, da war etwas. Etwas, das, wenn du es erkennst, wenn du es hinterher verstehst, ganz offensichtlich ist, weil es etwas aussagt. Es bedeutet etwas für das Timing, und es bedeutet etwas für dein Auftreten auf der Bühne, für deine Rolle, es gibt dir die Zeit, anders in das hineinzugehen, was du tun wirst.
Dominique Mercy:
Vielleicht wurde das offensichtlich und natürlich. Ich meine, es steckt eine Menge Arbeit dahinter, wie Züllig sagt. Aber es geschah auch auf ganz natürliche Weise, weil die Stücke aus so vielen verschiedenen kleinen Blöcken bestehen, die an einer Stelle zusammengefügt werden, um ein ganzes Stück zu kreieren. So hat sie gearbeitet: kleine Dinge tun, sie dann zusammenfügen, reduzieren, hinzufügen. Irgendwann dachte sie: Okay, dieser Block funktioniert von selbst, also arbeite ich jetzt an einem anderen Block und schaue irgendwann, welcher Block am besten zu welchem passt, und wenn sie passen, wie passen sie zusammen? Wie macht man, dass es funktioniert und dass sie zusammenpassen, indem man sie nebeneinander stellt, das eine vor das andere, das andere danach. Dies führt zu der Frage zurück, wie man die Musik dafür verwendet, die wir beim letzten Mal besprochen haben.
Kapitel 1.3
Immer auf der SucheRicardo Viviani:
Nach diesen grundlegenden Jahren, in denen sie mit Rolf Borzik zusammen gearbeitet hat, künstlerisch eng miteinander verflochten, machte sie ab einem bestimmten Punkt allein weiter, aufgrund seines Todes…
Kapitel 1.4
FilmexperimenteDominique Mercy:
Entschuldige, dass ich eine kleine Ergänzung mache, denn wo du das erwähnst, habe ich einen anderen Gedanken. Leider hat das irgendwie aufgehört, aber Rolf Borzik fing an zu filmen — Hans Pop filmte auch sehr oft, wenn er konnte; aber Rolf Borzik filmte, fotografierte während der Proben, bei normalen Proben, dann bei Generalproben und auch bei einigen Aufführungen. Er begann — sag mir, wenn ich falsch liege — aus ganz anderen Perspektiven zu filmen. Ich weiß jetzt nicht mehr, bei welchem Stück, vielleicht Kontakthof. Schließlich fing er an, nicht vom Hintergrund aus zu filmen, sondern er stellte die Kamera aus einer anderen Perspektive auf, viel näher an die Bühne, und filmte ein bisschen von unten. Ich glaube, er hat angefangen, mit der Kamera zu experimentieren. Ich weiß nicht, wohin das gegangen wäre. Nur um zu erwähnen, dass seine Neugier sehr groß war.
Ricardo Viviani:
Das Problem zu lösen, fünf Zentimeter Wasser auf der Bühne zu haben, ist keine einfache Sache.
Dominique Mercy:
Vor allem zu dieser Zeit, weil es keine Erfahrung damit gab, weißt du.
Ricardo Viviani:
Er hatte also diese wunderbare Seite, die, wie du sagst, wohin würden diese Filmexperimente führen? Das war sehr interessant.
Kapitel 1.5
Als KostümbildnerDominique Mercy:
Interessant ist auch der Gedanke, dass eine seiner ersten Kooperationen die als Kostümdesigner war: Teil der Bühnenarbeit waren die Kostüme von Thoas in *Iphigenie auf Tauris“. Das ist nicht nur die Idee eines Kostüms, es ist auch eine Vorstellung von der Rolle dieser Person: dieses große imposante Kostüm, und dann kommt dieser Typ heraus und plötzlich sieht er sehr zerbrechlich und dünn aus. Diese beiden Seiten von ihm: der äußere Eindruck von Macht und Schrecken und plötzlich, als er herauskommt, ein fragiles Wesen. Zerbrechlich sein und versuchen, beängstigend zu sein und weniger Angst einflößend zu werden. Ich meine, nur um das zu erwähnen...
Ricardo Viviani:
Ihr handwerkliche Fähigkeit wuchs mit all den Jahren der Erfahrung. Sie fügte der Arbeit, die sie bereits geleistet hatte, immer wieder eine weitere Ebene hinzu...
Kapitel 1.6
Peter PabstDominique Mercy:
Nun, ich weiß nicht, wie ich das beantworten soll, weil es einfach etwas ist, das sich von Stück zu Stück weiterentwickelte. Ich denke, es ist etwas, das auf natürliche Weise wächst. Natürlich selektiv, wenn man Wiesenland als Beispiel nimmt. Wiesenland ist ein sehr gutes Beispiel aus der Zusammenarbeit mit Peter Pabst und Pina, wo die Bühnenbilder plötzlich eine sehr wichtige Rolle spielen und die Situationen auf der Bühne beeinflussen. Das Set am Anfang ist eine große Wand, eine grüne Wand mit tropfendem Wasser und ein kleiner Raum mit dem Wasser am Ende dieser Wand. Und kurz vor dem Ende des ersten Teils, vor der Pause, fängt diese große Mauer plötzlich an, hochzugehen und bewegt sich, rollt die Bühne hinunter und wird zu kleinen Klippen; und der Raum, in dem man sich normalerweise bewegen kann, ist jetzt plötzlich sehr stark nach vorne begrenzt. Alles findet jetzt an der Bühnenfront statt. All die Szenen, von denen die meisten im Studio ohne die Bühnenbilder gemacht worden waren, und plötzlich muss man neu justieren, umdenken. Dann passt man sich der Situation an, und es wird etwas anderes; es bekommt plötzlich eine andere Bedeutung, weil es von der Topographie beeinflusst wird, nicht von der Geografie, sondern von der strukturellen Situation. Dies ist ein sehr gutes Beispiel für diese Zusammenarbeit mit Peter Pabst und Pina und den Einfluss auf die Arbeit an dem Stück.
Kapitel 1.7
Eigene HandschriftDominique Mercy:
Ich wollte noch ein anderes Beispiel geben: Ich glaube, es war für Kinder. Wir haben in Für die Kinder von gestern, heute und morgen nach einer Lösung für etwas gesucht. Ich glaubte wirklich, dass ich für diesen Moment eine Idee haben könnte, und ich war sehr ernsthaft und schlug sie vor. Ich weiß nicht mehr, ob es für ihn oder sie war, dass wir angerannt reinkommen sollten. Sie sagte: „Oh, ja, ja, klar. Das ist sehr neu.“ Okay. Danke. Es tut mir leid. Ich habe nichts gesagt. Und auf der anderen Seite hatte sie natürlich recht, weil sie nach einer bestimmten Lösung suchte. Es sagt viel aus, weil Pina nicht bewusst nach etwas Neuem gesucht hat, nicht versucht hat, die Kunst oder die Auffassung von Kunst zu ändern. Sie war auf der Suche nach dem, was in diesem Moment gebraucht wurde, und mit der Zeit merkt man natürlich, dass einige Dinge häufiger benutzt wurden als andere. Ist es wirklich notwendig, dasselbe zu verwenden, wenn du etwas Passenderes oder Interessanteres finden kannst? Ich würde jetzt hoffen, dass mehr Menschen diese Gedanken haben, sich ansehen, was sie tun und das so sehen: „Ja. Das ist sehr neu. Danke“. Ich bin nicht sarkastisch, nur ein bisschen, weißt du. Das ist nur, um zu sagen, dass man mit der Zeit, mit den Jahren natürlich mehr Erfahrung und mehr Gepäck hat, was dich zwingt, selektiver vorzugehen oder drastischer und bewusster zu wählen. Macht das Sinn?
Ricardo Viviani:
Das Thema: immer auf der Suche nach dem richtigen Ausdrucksweg zu sein, Lösungen zu finden, hat mit der wachsenden Erfahrung zu tun.
Dominique Mercy:
Was auch irgendwie paradox ist, denn wenn man, vielleicht nicht besonders sorgfältig, von einem Stück zum anderen schaut, findet man viele Ähnlichkeiten, viele Dinge, die man von einem Stück zum anderen wiedererkennen kann. Du hast Erinnerungen oder Dinge, die immer wieder vorkommen, was ich für normal halte. Ich meine, wenn man sich Gemälde oder Schriften anschaut, kann man ja auch erkennen, wer ein bestimmtes Buch geschrieben hat oder wer gemalt hat... Man kann einen Rembrandt von einem Jan van Eyck oder Anthonis van Dyck unterscheiden.
Ricardo Viviani:
Also, im Laufe der Jahre entsteht diese Art von Signatur, diese Art sich auszurücken, aber trotzdem wird jedes Stück anders, hat eine andere Aussage, allein schon durch den Einfluss der Koproduktionen, die jedem Stück eine andere Farbe verliehen haben. Gibt es da eine Frage?
Dominique Mercy:
Das Set-Design natürlich. Ich meine, obwohl die Bühnenbilder meistens ziemlich spät kommen, rührt der Unterschied von Stück zu Stück auch vom Einfluss der Bühnenbilder her. Manchmal kommt die Idee eines Bühnenbildes früh genug, um Pinas Fragen zu beeinflussen. Ich erinnere mich, dass sie irgendwann, ohne zu wissen, wie das Bühnenbild sein würde, anfing, Fragen über Wasser zu stellen: Was kann man im Wasser machen, oder wie kommt man von einem Punkt zum anderen mit... Ich erinnere mich jetzt nicht mehr genau an die Fragen, aber du dachtest: ok, Wasser. Hmm. Ohne zu wissen, wie das Bühnenbild sein würde, unabhängig von der Beschaffenheit des Tanzbodens. Zum Beispiel in Vollmond, wo wir bis zum letzten Moment dachten, wir könnten das Stück nicht zeigen, weil die Situation mit der Tanzfläche zu gefährlich war: zu rutschig, und dann hatten wir nicht die richtige Balance, welche Schuhe wir haben sollten, um nicht auszurutschen und zu stürzen. Welche Farben oder Texturen sollte der Boden haben, damit wir nicht fallen, was ist, wenn wir barfuß auf dem nassen Boden sind und so weiter. Ich kann mich nicht erinnern, ob sie kurz vor der Generalprobe eine Lösung gefunden haben, die das möglich macht. Bis dahin dachten wir, wir könnten das Stück vielleicht nicht rechtzeitig zeigen. Das ist also ein Aspekt, der die Arbeit beeinflusst hat. Aber ich denke, was auch einen großen Unterschied macht, ist die Tatsache, dass die Koproduktionen und die Aufenthalte in verschiedenen Teilen der Welt die Fragen von Pina beeinflusst haben und wie wir diese Fragen beantworten. Ich denke auch, dass sich Pina allmählich verändert hat, ich meine, nach und nach. Wie ich schon in einem der vorherigen Interviews gesagt habe, gab sie uns in den ersten Stücken viel Material, choreografisches Bewegungsmaterial, an dem sie zu Beginn gearbeitet hat, und hat das mit unserem eigenen Material vermischt, und wir haben es so verwendet, wie wir es wollten. Allmählich nahm sie das zurück, immer mehr bis zu dem Moment, als sie gar kein eigenes Bewegungsmaterial mehr vorgab. Das einzige choreografische Bewegungsmaterial in den Stücken waren die Ergebnisse, die sich aus den Fragen ergaben, die sie stellte. Je nachdem, welche Tänzer oder welche Art von Personen von Jahr zu Jahr in die Kompanie kamen, brachten sie eine andere Qualität, einen anderen Geschmack, andere Farben und Dynamiken mit. Bewusst oder unbewusst hat das die Stücke beeinflusst.
Kapitel 2.1
BandoneonRicardo Viviani:
Die eine Produktion, die ihr gemacht haben, als ihr zurück von der Südamerika-Tournee 1980 kamt, war „Bandoneon“.
Dominique Mercy:
Oh ja.
Ricardo Viviani:
Hattest du Erinnerungen, als ich gerade Bandoneon zu dir gesagt habe?
Dominique Mercy:
Nun, natürlich gibt es zwei Dinge: Wenn du sagst Bandoneon, dann ist da der Tango. Diese wunderbare Musik: Tango. Dann, wenn wir über die Proben sprechen, da war dieser Moment, in dem ich in einem Tutu herauskomme und diese port de bras und andere Ballettbewegungen mache und mich dabei total kaputt fühle. Für mich war das sehr stark. Solche Dinge kommen irgendwie von irgendwoher, und man kann sie nicht wirklich bewusst einsetzen. Bei der Probe bat sie mich einfach, reinzukommen, dieses Tutu zu tragen und einfach dort im Raum zu sein. Weißt du, dann hatte ich diesen Moment, in dem ich wirklich nicht wusste, was ich damit anfangen sollte, und ich schämte mich ein bisschen und fühlte mich trotzdem gut dabei. Ich kann mich nicht einmal erinnern, ob ich es gemacht habe, oder ob sie mich gebeten hat, pliés zu machen. Vielleicht war die größte Schwierigkeit, zu versuchen, das zu rekonstruieren, zu fühlen und wieder in diese Situation zurückzukehren. Das ist das Schöne an der Arbeit: zu versuchen, sich wieder in so etwas hineinzuversetzen, zu versuchen, es wieder zu fühlen. Das ist eine der schönen Seiten daran, es nicht nur beim ersten Mal zu tun, sondern zu rekonstruieren, es jedes Mal auf die eine oder andere Weise wiederzufinden. Es ist lustig, weil es mich rückblickend dazu gebracht hat, darüber nachzudenken. Ich glaube nicht, dass ich mir dessen bewusst war, als wir es das erste Mal gemacht haben, aber dann musste ich erkennen, dass es eher wie eine Ballerina oder eine Diva war. Als ich mit Manuel Alum in New York gearbeitet habe, haben wir ein Stück gemacht... Welches Stück war das? Es war auf das italienische Konzert von Bach. (singt). Es war eine Rolle über diese New Yorker Tänzerin, die so eine Stimme hatte. Sie hatte eine sehr hohe Stimme, eine sehr nette Person. Du kennst sie wahrscheinlich. Ich erinnere mich nicht an ihren Namen. Sie hatte dieses grüne Kleid und Juwelen und so. Ich erinnere mich, dass sie wunderschön, dramatisch und stark war, und ich verbeugte mich und machte eine Pause. So wie ich es in Bandoneon mache, und ich wusste nicht, als wir es zum ersten Mal gemacht haben, dass es etwas aus meiner Erinnerung war. Kurz danach wurde mir klar: Oh, das habe ich in dem Stück für Manuel Alum gemacht, das ist sehr seltsam. Es ist etwas, das für mich sehr stark ist, ich liebe diesen Teil von Bandoneon wirklich sehr.
Dominique Mercy:
Apropos Bandoneon, das ist eines der umstrittensten Stücke von Pina. Sie traute sich fast nicht, es zu zeigen. Da ist zum Beispiel dieser Moment, in dem Nazareth Panadero dieses Gedicht von Heinrich Heine liest: Im wunderschönen Monat Mai und sie wiederholt es ungefähr dreimal, glaube ich. Vorne an der Bühne fängt sie an, das zu lesen. Sie liest es vollständig, dann fängt sie wieder an und wird unterbrochen, dann fängt sie an, kommt aber nicht dazu, es zu lesen. Es nimmt viel Zeit in Anspruch. Und es gibt diese große Wiederholung in Bandoneon, wo man dasselbe macht, dieselbe Hebung. Zu dieser Zeit war es also wirklich gewagt, weil es viel Zeit in Anspruch nahm und Pina sich fast nicht getraut hat. Sie dachte, es könnte zu lang sein. Wir standen wirklich hinter ihr und sagten: „Nein, wir müssen das tun“. Wir wollten das wirklich haben, das müssen wir uns diesmal herausnehmen. Wir müssen wirklich hinter ihr stehen und den Mut haben, in diese Richtung zu gehen. Was sie wahrscheinlich sowieso getan hätte, aber manchmal brauchte sie eine Bestätigung oder das Vertrauen von den Menschen um sie herum.
Dominique Mercy:
Wie in Danzón mit der Musik von The Dying Swan, wo sie das ändern wollte, und ich sagte: „Nein, nein, es ist so wunderschön. Bitte, bitte behalte diese Musik.“; und das hat sie getan. Bandoneon war unglaublich, wir haben es dreimal im Theater de la Ville gezeigt. Das erste Mal war ein riesiger Skandal, die Leute haben dieses Timing, diese Art von Wiederholungen nicht akzeptiert: Zwei- oder dreimal wiederholen, dann wieder, und die Zeit vergeht, wir nehmen uns Zeit, warten einfach auf der Bühne, stehen da und fast nichts ist passiert. Jemand baut eine Brücke [eine Yoga-Bewegung], bis er es nicht mehr aushalten kann: Dieses andauernde Leiden, das konnten die Menschen nicht akzeptieren. Es war eine starke Reaktion des Publikums, aber auch der Kritiker. Dann haben wir es ein paar Jahre später wieder gemacht. Wir sind damit zurückgekommen, und es war ein großer Erfolg. Dasselbe Theater und wahrscheinlich zum Teil für dasselbe Publikum, und es war ein großer Erfolg. Unglaublich. Überall: auf der Bühne, bei den Kritikern, in der Presse. Nach ihrem Tod kamen wir mit Bandoneon zurück. Und es war fast wie beim ersten Mal, und wir dachten: „Müssen wir noch einmal von vorne anfangen? “, „aber wo waren wir? Was ist passiert?“ Und es war gut, weil es einem klar macht, dass nichts als selbstverständlich angesehen werden sollte. Es geht immer um den Moment. Sogar für ein Stück, das in den achtziger Jahren gemacht wurde und jetzt 2010/11 in Paris gezeigt wird.
Kapitel 2.2
Spielzeit 1980/81Ricardo Viviani:
Über das Repertoire im Jahr 1980: Es war tatsächlich das allererste Mal, dass es in der Spielzeit nur eine Premiere gab — ein neues Werk in der Spielzeit. Was auch eine große Sache war!
Dominique Mercy:
Ja. Das begann 1980. Bewusst oder unbewusst — wir haben nie darüber gesprochen – fing sie an, ein Repertoire aufzubauen und im Herbst oder Winter ein neues Stück herauszubringen, plus einer Neueinstudierung eines älteren Stücks. Bis dahin waren es immer zwei neue Stücke gewesen.
Ricardo Viviani:
1988 gab es eine Wiedereinstudierung von Bandoneon, dann wieder 1992. Dies sind einige der Daten, die ich hier habe.
Dominique Mercy:
Pina war bereits gestorben, als wir es das dritte Mal gemacht haben, ich glaube, es war vielleicht 2011,12. Es war unglaublich, denn während der Aufführung gab es den ganzen Abend über diese Reaktion des Publikums. Man konnte die Diskrepanz zu der Zeit davor spüren – andere Gefühle. Wir dachten: „Oh mein Gott, es ist wie das erste Mal. Was ist in der Zwischenzeit passiert? Was ist passiert? Warum?“ Plötzlich hatten die Leute wieder Schwierigkeiten, sich eine gewisse Zeit zu nehmen oder sich die Zeit zu nehmen, etwas auf eine andere Weise zu betrachten.
Ricardo Viviani:
Über die Spielzeitplanung: Welche Stücke werden gezeigt? Natürlich gibt es Anfragen von dem einen oder anderen Theater, von einem Ort, der dieses oder jenes Stück noch nicht gesehen hat, dann jedes Jahr aus Paris... Aber gab es auch ein Gespür für das, was gerade vor sich geht? Möglicherweise in der Welt und möglicherweise in ihr selbst oder in der Kompanie.
Dominique Mercy:
Natürlich stellt sich auch die Frage, was es bedeutet oder wie es wirkt, wenn man eine Wiederaufführung und das neue Stück hat. Obwohl man ein Jahr zuvor nie weiß, wie das neue Stück aussehen wird. Es ist aber auch interessant zu sehen, wie das Zusammenwirken von einem Wiederaufnahmestück und der neuen Kreation aussieht. Was hat die Zeit damit gemacht? Wo stehen wir, was dieses Stück angeht? Irgendwie ist das auch interessant.
Kapitel 2.3
Referenzen zum BallettRicardo Viviani:
In Nelken gibt es diesen unglaublichen Moment, in dem du anfängst, manéges und entrechat sis zu machen. Viele Leute haben das so interpretiert, als würde das etwas über Ballett und Tanztheater aussagen sollen. Ich erinnere mich, dass du genau das gesagt hast: Es entsteht aus der Erfahrung, daraus, wie man ein Gefühl innerhalb unseres Erfahrungshorizontes ausdrückt; selbst in Schiff gibt es eine Ballettstange.
Dominique Mercy:
Ich meine, vielleicht ist das, was ich in Nelken mache, ein bisschen anders als die anderen Dinge, die du in anderen Stücken finden kannst. Wir könnten eine Liste machen, aber ich weiß nicht, ob das so interessant ist. Es gibt Referenzen von Pina Bausch und einen großen Respekt vor dem klassischen Ballett. Eine Anerkennung dessen, was das für einen Tänzer bedeutet. Was bedeutet es für einen Tänzer? Was bringt es mit sich? Was bringt ein port de bras mit sich, wenn er mit viel Ernsthaftigkeit, Ehrlichkeit und Gefühl gemacht wurde? Was bringt es mit sich, was sagt es? Darin steckt Großzügigkeit, es ist ein Filter für das, was man geben oder fühlen, weitergeben und teilen kann. Ich denke, Pina Bausch hatte großen Respekt, eine wahre Liebe und Respekt für das Ballett. Nun, bezogen auf diesem Nelken-Moment, in praktischer Hinsicht war da die ursprüngliche Frage: „Was kannst du tun, was kannst du am besten, oder worauf bist du stolz?“ Das ist jene Frage, die Lutz Förster mit The Man I Love beantwortet hat. Etwas, das er gerade von einem sprachbehinderten Mann in Nordamerika, Los Angeles oder San Francisco in Kalifornien gelernt hatte. Er war sehr stolz darauf, es koordinieren zu können, und hatte es gerade gelernt. Und Jan Minarik hat zum Beispiel die Zwiebeln geschnitten, und es gab noch verschiedene andere Dinge. Ich glaube, ich habe schon gesagt, dass ich mich nicht getraut habe, es zu sagen, aber Urs Kaufmann saß neben mir und irgendwann sagte er: „Warum tust du nicht all die Dinge, die du kannst, diese entrechat sis und tour en l'air— und _manége. Aber ich habe mich nicht getraut, ich war sehr schüchtern, und ich dachte, ich könnte diese Dinge einfach nicht tun. Er hörte nicht auf, mich zu ermutigen und das zu sagen. Ich weiß nicht, ob Pina es gehört hat und es so sagte, wie sie es manchmal getan hat: „Ja, ja, klar, mach‘ weiter und tu es“. Und dann habe ich es schließlich gemacht, und es wurde diese Szene, in der ich das benutze, um zu protestieren. Nicht nur, um einfach zu protestieren, um etwas zurückzufordern, sondern dies als Vektor für einen riesigen Kampf, für Traurigkeit und Wut zu verwenden, wie zum Beispiel: „Ja, ich kann all diese Dinge, aber was sonst?“ Es war einfach so, als würde man um Hilfe schreien: „Weißt du, ich kann das alles machen, aber was hat das für einen Sinn?“ Aber mir ist es gewiss nie in den Sinn gekommen, mich lustig zu machen oder das Ballettvokabular zu kritisieren, auch nicht in Pinas Sinn. Überhaupt nicht. Um das zu ergänzen, was ich gerade über Pina und den Respekt vor dem Ballett gesagt habe, es war sehr wichtig und es stand für sie nie in Frage, dass wir jeden Tag Ballettunterricht hatten. Sie erwähnte immer Kurt Jooss, an der Schule war es sehr wichtig, zeitgenössischen Unterricht zu haben, modern dance Klassen, aber auch Ballett für die Struktur, für die Sprache, für das, was es einem gibt. Für Pina war es sehr wichtig, sehr, sehr wichtig.
Kapitel 3.1
FolkwangschuleRicardo Viviani:
Ich glaube, du hast sehr früh Training und warm up für die Kompanie gegeben, stimmt das?
Dominique Mercy:
Nun, für die Kompanie nicht wirklich, vielleicht ein paar Mal. Weißt du, professionelle Tänzer mögen es nicht so sehr, wenn sie korrigiert werden und daran erinnert werden, dass es einen besseren Weg gibt, etwas zu tun, als die Art und Weise, wie sie es machen. Es hat mir also nicht so viel Spaß gemacht, die Kompanie zu unterrichten. Als Pina Bausch die Leitung der Tanzabteilung übernahm, nachdem Hans Züllig gegangen war – wenn ich mich recht erinnere, war er nur dann bereit zu gehen, wenn Pina die Leitung übernehmen würde – hatte sie Malou Airaudo bereits gebeten, dort an der Schule zu unterrichten. Ich glaube, sie hat Lutz Förster und mich gleichzeitig gebeten, regelmäßig an der Schule zu unterrichten. Und dann war sie ein bisschen verärgert, dass ich es so ernst nahm, weil sie dachte, das würde in meinem Herzen oder in meiner Zeit irgendwie mehr Raum beanspruchen, als sie wollte. Ich unterrichte sehr gerne an der Schule, unterrichte sehr gern die Schüler. Mit den meisten von ihnen gibt es einen schönen Austausch. Es ist schön zu sehen, wie sich Menschen entwickeln, und wie sie aus der Sprache, die man ihnen beibringen oder vermitteln will, ihre eigene Sprache machen.
Ricardo Viviani:
Was hast du unterrichtet?
Dominique Mercy:
Ich habe versucht, den Ideen, den Fußstapfen von Hans Züllig und seinem Unterricht zu folgen: Ballettvokabular und -struktur mit Pinas und Zülligs Bewegung zu mischen, und auch, meine eigene Qualität und Bewegung einzubringen. Ich habe diese Elemente gemischt, versucht, eine organische Mischung herzustellen, und hoffe, dass es eine interessante Mischung war.
Ricardo Viviani:
Das möchte ich etwas genauer wissen: Kannst du vielleicht beschreiben, wie Züllig gearbeitet hat?
Dominique Mercy:
Züllig arbeitete viel mit Ballettstruktur und arbeitete viel — Jean Cébron tat das auch sehr stark — mit einem Orientierungssinn im Raum, wie der Raum deine Art da zu sein beeinflusst; in Bezug auf die verschiedenen Diagonalen, die verschiedenen Perspektiven und Punkte im Raum. Indem arbeitet man mit den unterschiedlichen Haltungen, indem du in deiner Achse labil_ [empfindlich, gebrechlich, instabil] bist, im Gegensatz zu stabil; alle labil arbeiten mit Kurven und die unzentrierte Arbeit, bezogen auf die Mitte, aber außerhalb der Mitte.
Ricardo Viviani:
Okay, wunderbar. Wir können das also mit dem System von Sigurd Leeder und Kurt Jooss in Verbindung bringen. Auch Cébron hat ziemlich ausführlich darüber geschrieben.
Dominique Mercy:
Die Sache ist, Jean Cébron war viel akribischer, viel detaillierter. Hans Züllig ging mehr auf Bewegungen und Empfindungen ein, wobei ich mich sicherer fühlte.
Kapitel 3.2
SprungbrettRicardo Viviani:
Die Folkwang-Schule wurde — sie war es schon — immer mehr zu einem wichtigen Ort, an dem Menschen auf die Arbeit in der Kompanie vorbereitet wurden.
Dominique Mercy:
Nun, sie wurden nicht darauf vorbereitet, in die Kompanie zu kommen, aber es war sicherlich ein Ort, zu dem Pina eine sehr starke Verbindung hatte: Erstens, weil sie für eine bestimmte Zeit die Direktorin der Tanzabteilung war – auch wenn sie nicht so oft dort war, wie sie es sich gewünscht hätte. Es war natürlich ein sehr geschätzter Ort, ein sehr wichtiger Ort für sie: Dort hat sie studiert, und sie hat immer versucht, die Qualität dort aufrechtzuerhalten. Sie war immer auf dem Laufenden. Malou Airaudo war auch sehr aktiv darin, Pina damit in Verbindung zu halten. Sie sagte ihr, du solltest in diesen Kurs hineinschauen, es gibt viele interessante Schüler, oder es gibt einen bestimmten Schüler, du solltest kommen und ihn tanzen sehen. Sie informierte Pina aktiv darüber, was in der Schule vor sich ging. Pina fuhr oft hin und her und begann, Das Frühlingsopfer regelmäßig wieder aufzunehmen. Sie engagierte regelmäßig Schüler aus dem dritten oder vierten Jahr, um an den Aufführungen von Das Frühlingsopfer mitzuwirken. Es kamen immer mehr Schüler zu den Auditions. Die Tatsache, dass die meisten Kompaniemitglieder ehemalige Folkwang-Schüler waren, lag nicht daran, dass sie von Folkwang kamen... vielleicht weil sie von dieser Schule kamen, hatten sie dieses Gepäck, diese Qualität, für die Pina sehr empfänglich war. Es gab also eine sehr starke Verbindung zur Schule. Tatsächlich gibt es viele Tänzer oder ehemalige Tänzer aus der Kompanie, die ehemalige Folkwang-Schüler waren. Es wurde jedoch nicht offiziell erwartet, dass die Schule ein automatisches Trampolin oder eine Tür zur Kompanie sein würde.
Ricardo Viviani:
Dennoch gibt es viele Geschichten von Menschen, auch von anderen Orten der Welt, zu denen sie gesagt hat: „Oh, würdest du einfach kommen und ein paar Jahre hier studieren?“
Dominique Mercy:
Ja, es ist vielen Leuten passiert, die vorgetanzt haben, und sie dachte, sie seien entweder zu jung oder technisch noch nicht weit genug, vielleicht nicht reif genug, um den technischen Mangel beim Eintritt in die Kompanie auszugleichen. Wenn sie sie mochte, riet sie ihnen, ins Folkwang Tanzstudio zu gehen, weil sie das Lehrpersonal kannte. Sie wusste, wer sie unterrichtete und was in der Kompanie vor sich ging. Weil sie sich für diese Leute interessierte, wusste sie irgendwann, dass sie dort sein würden. Ja sicher. Also ja.
Kapitel 3.3
Tänzerische QualitätenRicardo Viviani:
Tänzer verfügen über eine Reihe von Fähigkeiten, ein hohes Maß an technischem Fachwissen, ein hohes Maß an Kunstfertigkeit oder ein Maß an persönlichem Interesse. Ich weiß, es ist eine verrückte Frage, aber welche Eigenschaften machen einen guten Pina-Bausch-Tänzer, eine gute Pina-Bausch-Tänzerin aus, wenn wir uns Leute anschauen, die dieses Repertoire lernen wollen?
Dominique Mercy:
Zuallererst widerspreche ich vehement [diesen Begriffen]. Das hat mir nie gefallen: Nach dem Tod von Pina gaben sich einige Mitglieder der Kompanie das Label „Pina Bausch Dancer“. Ich weigere mich immer, jemanden als Pina-Tänzer zu bezeichnen. Ich weiß nicht, was das ist: ein Pina-Tänzer. Okay, das habe ich gesagt: Ich hoffe, ich habe es nicht nur gesagt, ich hoffe, es wird auch gehört. Wenn ich versuche, mich daran zu erinnern, was für Pina wichtig war, dann war es etwas, das sie nicht erklären konnte. Es war eine gewisse Qualität, die sie in dem Moment, in dem sie im Raum war und sich entscheiden musste, jemanden zu engagieren, in einer Person spürte, in einem Menschen spürte. Zusammen mit dem Gefühl, dass es interessant wäre, mit dieser Person zu arbeiten, mit dieser Person einen Weg zu gehen. Ich glaube, das war einer der ersten Aspekte, auf den bei einer Person reagierte. Das andere Element — mit einem gewissen Widerspruch zu diesem berühmten Satz, den die Leute gerne wiederholen —, dass sie mehr daran interessiert war, was Menschen bewegt, als daran, wie sie sich bewegen, was diese beiden Aspekte hat: Erstens hat das, „was Menschen bewegt“ mit dem zu tun, was ich gerade erwähnt habe, etwas, das man nicht erklären kann, aber das man einfach von einer Person erspüren kann. Und zweitens musste sie auch nach Leuten suchen, die etwas Bestimmtes mitbringen, die eine bestimmte Technik, ein gewisses Wissen haben, da es einige Stücke im Repertoire gibt wie Das Frühlingsopfer, das ziemlich anspruchsvoll ist, und einige Soli in Stücken, die je nach Stück technisch mehr oder weniger anspruchsvoll sind. Und sie reagierte sensibel darauf: Wieviel Technik jemand hat und wie er sie einsetzt. Sie war sicherlich nicht an Menschen interessiert, die Technik verwenden, um sich selbst zu zeigen. Sie war daran interessiert, wie Menschen diese Technik nutzen, um zu tanzen, um da zu sein. Manche Stücke des Repertoires sind bis zu einem gewissen Grad anspruchsvoll, das kann man nicht einfach beiseitelegen, weil man damit zurechtkommen muss. Sacre verlangt gewisse Dinge, die du bedienen musst. Pina experimentierte auch, sogar mit einigen interessanten Experimenten wie in Kontakthof, wo sie einige Dinge änderte, sowohl für ältere Menschen als auch für junge Menschen. Dennoch hatte Pina ein scharfes Auge für die technischen Regeln: Wenn der Fuß ausgedreht werden muss, muss er ausgedreht werden, wenn der Fuß gestreckt werden muss, muss er gestreckt werden. Sie war sehr klar und sehr sensibel in dieser Hinsicht. Ich erinnere mich — ich werde den Namen nicht sagen, aber ich denke, es ist wichtig, diese Seite von Pina zu kennen —, wie sie bei einer Wiederaufnahme für Das Frühlingsopfer gecastet hat, und eine Tänzerin, ein Mitglied der Kompanie, hat sogar sehr nett getanzt, aber Pina war beunruhigt, weil sie keine schönen Füße hatte. In Das Frühlingsopfer gibt es ein kleines Solo und die Füße sind wichtig. Es war kein Problem, wenn sie andere Soli tanzte, sie war eine wunderschöne Tänzerin, aber für diesen Moment, für dieses Solo in Das Frühlingsopfer, hat Pina sie aussortiert, weil ihre Füße sie gestört haben, und hat jemand anderen dafür genommen. Natürlich kann man nicht, wie man in Frankreich sagt [plus royaliste que le roi] königlicher sein als der König, aber das ist ein Teil von Pinas Blick, von ihrer Art, die Dinge zu betrachten.
Kapitel 4.1
DoppelabendRicardo Viviani:
Sacre ist ein körperlich sehr anspruchsvolles Stück, aber es unterscheidet sich stark von den Anforderungen von Café Müller. Kannst du uns etwas über deine Erfahrungen als Tänzer bei der Aufführung beider Stücke erzählen? Was ein bisschen schwierig ist, weil Café Müller so ein persönliches Stück für dich ist.
Dominique Mercy:
Die Sache ist: Café Müller beinhaltet eine körperliche und auch eine sehr starke emotionale Anforderung. Es gibt einen Moment, der körperlich sehr anstrengend ist, und weil da noch diese emotionale Ebene dazukommt, macht es das sicherlich zu einem herausfordernden und anstrengenden Stück. Pina pflegte zu sagen — weil wir irgendwann die beiden einzigen Schöpfer aus der Ursprungsbesetzung waren: „Wir beide, wir werden so lange wie möglich weiter Café Müller machen. Ich werde erst aufhören, wenn du aufhörst.“ Nun, sie ist irgendwie vor mir ausgestiegen. Aber dennoch... Sorry. Nun, der Unterschied liegt bei Das Frühlingsopfer, das ist für mich auf einer anderen emotionalen Ebene. Weil die Körperlichkeit so stark ist und auch die Anforderungen an die technische Seite der Choreografie so stark sind, gibt es zusammen mit dem Thema des Stücks etwas, das einen durch das Stück trägt. Und natürlich ist es sehr physisch, sehr anstrengend, aber es hat etwas Nährendes, irgendwie eine nährende Energie. Offensichtlich ist das der Unterschied: Café Müller hat einerseits technische Anforderungen, aber die größte Anforderung liegt in diesen ständigen emotionalen Situationen und Spannungen, die sehr anstrengend sind — auf Französisch éprouvant [anstrengend, zermürbend]. Ich wiederhole mich, aber in Das Frühlingsopfer gibt es diesen Strom, diesen Energiefluss, keine Kampfenergie, sondern diese Art von Ritual wie in diesem Moment, in dem die Frauen und die Männer — diese jungen Menschen — von beiden Seiten um die Auserwählte konkurrieren: das Opfer. Das ist irgendwie nährend. Die Anforderungen der Choreografie, die Körperlichkeit ernähren dich dabei. Es ist anstrengend. Wie ich dir bereits gesagt habe, erinnere ich mich an das erste Mal, als ich es gemacht habe, und dass ich dachte, ich könnte dieses Stück nie wieder machen, als ich wieder in die Kompanie kam, weil es so anstrengend war. Aber es macht Spaß. Ich meine, es ist eine wunderbare körperliche Erfahrung; auch mit der Erde — wo wir gerade von natürlichen Elementen sprechen, das ist eines der ersten starken natürlichen Elemente, die Rolf Borzik in die Stücke gebracht hat, es war für Das Frühlingsopfer.
Kapitel 4.2
Mit Live-OrchesterRicardo Viviani:
Erinnerst du dich an das eine Mal, als es mit Live-Musik gespielt wurde?
Dominique Mercy:
Ja, es war in Bochum, als Gerard Mortier die Kompanie zur Ruhrtriennale einlud, frag mich nicht, welches Jahr es war. Wir haben es wieder mit Live-Musik gemacht, als Pina gestorben ist. Dieses allererste Mal war es in einer großen Halle in Bochum für die Ruhrtriennale, ich habe den Namen vergessen [Jahrhunderthalle Bochum]. Es war ein riesiger Raum, und ich glaube, das haben wir mit den Plexiglaswänden gemacht und mit vielen Stühlen überall. Ich kann mich nicht erinnern, ob die Bühne ein bisschen höher war, ich glaube, sie war ein bisschen höher, weil es unmöglich gewesen wäre, die Musiker auf der gleichen Ebene zu haben wie uns. Als wir es wieder gemacht haben, hatten wir nur eine Sängerin für The Fairy Queen und die Dido & Aeneas Arie. Das erste Mal mit Pina in Bochum waren zwei Frauen dabei, eine Sängerin für die Arien von The Fairy Queen und eine Sängerin für die Arie Dido & Aeneas, für die Klage [When I Am Laid in Earth] und natürlich ein Bariton [für Next, Winter Comes Slowly]. Wir waren skeptisch, weil wir an eine bestimmte Version von Musik gewöhnt sind, zu der wir ständig tanzen können — wir hatten die Aufnahme von Janet Baker für die Dido & Aeneas-Klage [When I Am Laid in Earth], wir machen das normaler Weise mit dem Band. Also ist es natürlich so, dass du an eine bestimmte Version gewöhnt bist, die du sehr magst: du bist an das Timing, die Farbe der Stimme und so viele verschiedene Dinge gewöhnt. Andererseits ist es immer so aufregend, das mit einem Live-Orchester zu machen. Es gibt immer etwas so Schönes, es gibt eine Wärme, die man nicht hat, wenn es mit dem Band ist. Obwohl man daran gewöhnt ist, merkt man doch, dass es etwas anderes ist, wenn die Musik live ist, was wirklich wunderschön ist, auch wenn man einige Dinge darin vermisst. Aber die Herausforderung bei Café Müller liegt in einer sehr technischen Hinsicht: Da die Stühle in verschiedene Richtungen fliegen, musste die Person, in diesem Fall Jean Laurent Sasportes, extrem vorsichtig sein, denn sehr oft landen die Stühle ganz vorne am Bühnenrand. Man musste wirklich aufpassen, dass sie nicht ins Orchester fallen, was eine echte Gefahr ist, ein konkretes Risiko. Irgendwie ist es nie passiert. Das andere Problem besteht in Bezug auf Sacre, je nachdem, wie man läuft — der Rand des Tanzteppichs, über den die Erde gelegt ist, ist nicht weit vom Orchestergraben entfernt — muss man aufpassen, dass die Musiker im Orchester die Erde nicht auf ihre Instrumente oder auf ihren Kopf bekommen.
Ricardo Viviani:
Über Sacre mit Live-Musik sprechen — das ist auch eine technische Frage, aber wie ist die Klangumgebung? Ich meine, wenn man mit einem Live-Orchester arbeitet, kommen einige Klänge von der einen Seite und einige Klänge von der anderen Seite. Das Timing so beizubehalten, wie man es von der Aufnahme gewohnt ist, kann anders sein.
Dominique Mercy:
Nein, es ist eine Tatsache, du hast recht. Eigentlich habe ich nie wirklich darüber nachgedacht habe, weil es nie ein Problem war.
Ricardo Viviani:
Vielleicht liegt es an der Qualität der Musik, weil es einige Stücke gibt, bei denen du es gewohnt bist, einem bestimmten Instrument zu folgen, das den Takt vorgibt, und dann hörst du plötzlich einfach (singt) [einen anderen Klang].
Dominique Mercy:
Oh ja! Es gab ein sehr gutes Beispiel, als wir Das Frühlingsopfer zum ersten Mal mit Live-Musik in Paris gemacht haben. Ich erinnere mich, dass wir bei einer der ersten Orchesterproben auf der Bühne waren: Da ist dieser Moment, den wir den Kreis nennen — das ist quasi das Ritual (singt). — Vor allem bei etwas wie Das Frühlingsopfer, übernehmen einige Instrumente die Kontrolle über andere, je nachdem, welche Version man hat. Das ist durchaus möglich, weil es nicht beliebig ist, sondern fast in der Partitur enthalten ist, sodass manchmal andere Instrumente mehr Raum einnehmen, aber auch die Tempi der Musik variieren. Du hast also die Farbe und auch das Tempo der Musik. — Ich erinnere mich, sie fingen an, etwas zu spielen, und ich meine wörtlich „etwas“, ich habe es mit Absicht gesagt, so dass wir uns gegenseitig ansahen, dann hielten die Tänzer auf der Bühne inne und schauten in den Saal und versuchten, uns zu finden, mit so einem Blick, als ob sie sagten: „Was ist los? Was spielen sie jetzt? Ist das Sacre? Ist das ein anderes Stück?“ Es war einfach nicht wiederzuerkennen. Es war einfach ein anderes Musikstück. Wir mussten ein ernstes Gespräch mit dem Dirigenten führen, um das Ganze neu einzustellen und ihm klarzumachen, dass das einfach unmöglich war. Da die Choreografie auf einer bestimmten Version geschrieben wurde, mussten wir einen möglichen Kompromiss finden, was wir auch getan haben. Je nachdem, mit welchem Dirigenten und mit welchem Orchester wir tanzten, es gab in all den Jahren unterschiedliche Orchester und Dirigenten, mussten wir uns immer anpassen. Du kannst nicht einfach einen Dirigenten bitten, genau dieselbe Version wie die Pierre Boulez-Version mit dem Cleveland Orchestra zu machen. Die, die wir verwenden, ist die erste Version. Er hat es zweimal mit dem Cleveland Orchestra aufgenommen, und wir haben die erste Aufnahme mit Boulez und dem Cleveland Orchestra verwendet. Es hat bestimmte Tempi, ein bestimmtes Gleichgewicht der Instrumente, und die Choreografie hing davon ab, also mussten Kompromisse eingegangen werden, aber zu viele. Und ich erinnere mich an dieses erste Mal, als es einfach unmöglich war, als Beispiel.
Ricardo Viviani:
Ja, ja. Manchmal gibt es Dinge, die einfach unmöglich sind, die Choreografie stößt manchmal an bestimmte Grenzen, was die Geschwindigkeit und auch die Abstände angeht. Wenn die Dinge nicht koordiniert sind, wenn ein Tänzer nicht hört, wohin er gehen soll, krachen sie aufeinander.
Dominique Mercy:
Ich wusste damals nicht, dass es in Orpheus und Eurydike, im dritten Akt, dieses sehr berühmte Flötensolo gibt (singt). An einem Punkt gibt es eine Kadenz, bevor von einem Musikstück zum anderen übergegangen wird. Ich wusste nicht, dass diese Kadenz eigentlich ganz frei ist, denn in vielen Versionen, die man hört, ist es mehr oder weniger dieselbe Kadenz wie bei der Flöte. Eines der ersten Male, dass ich es anders hörte, war bei einer der Wiederaufnahmen in Paris. Ich weiß nicht, ob es die erste oder zweite Wiederaufnahme von Orpheus und Eurydike in Paris war. Es war wie bei Thomas Hengelbrock und seinem Ensemble, wahrscheinlich war es eine andere Flötistin. Plötzlich ging es irgendwohin und ich dachte: „Was zur Hölle ist das? Was spielt sie? Ich meine, was ist da los?“ Ich ging zu Thomas und fragte ihn, und er sagte: „Nun, eigentlich kann sie in dieser Kadenz spielen, was sie will.“ Und sie hatte diese Entscheidung getroffen, die uns so seltsam vorkam, so fremd. Wir haben es dann verstanden, und es war kein sehr wichtiger Moment in der Choreografie — es ist eine Art Übergangssituation, es hat keinen großen Unterschied gemacht. Es wurde ihr gesagt, dass es für uns sehr seltsam war, also fand sie etwas anderes, aber immer noch anders als das, was wir gewohnt waren, aber es hat funktioniert. Sobald du es weißt, gewöhnst du dich daran und es ist in Ordnung. Das Gleiche ist jetzt passiert, als wir es in Fürth gemacht haben, die Kompanie hat es nur für das Gluck-Festspiel gemacht. Nicht hier, denn das war mit dem Wuppertaler Orchester und sie haben dieselbe Kadenz gespielt, aber im Barockorchester in Fürth hatte die Flötistin auch eine ganz andere Kadenz, und irgendwie viel länger. So war es (Gesten), aber wir haben uns daran gewöhnt.
Kapitel 4.3
Ein Kammerspiel?Ricardo Viviani:
Café Müller ist eines der Stücke mit einer kleinen Besetzung. Die Besetzung besteht aus sechs Personen, und aus diesem Grund lässt sich damit möglicherweise flexibel auf bestimmte Ereignisse reagieren. Es gab eine Aufführung in Dresden, nach der Überschwemmung der Elbe gab es eine Benefizvorstellung von Café Müller. Ich glaube, als die Kompanie aus Griechenland zurückkam. Ex-Intendant Holk Freytag war der Direktor des Theaters in Dresden. Anschließend seid ihr in Dresden für die Opfer der Flutkatastorphe aufgetreten. Erinnerst du dich daran?
Dominique Mercy:
Jetzt, wo du es sagst, ja. Aber ich habe vergessen, wo wir es gemacht haben.
Ricardo Viviani:
Es war der Intendant Holk Freytag, der zuvor hier Intendant an den Wuppertaler Bühnen war.
Dominique Mercy:
Ja. Aber ich habe völlig vergessen, wo wir es gemacht haben, in welchem Raum?
Ricardo Viviani:
Das Bühnenbild muss immer noch gebracht werden und das erfordert viel Organisation, aber was die Besetzung angeht, gibt es mehr Flexibilität. Ein anderes Beispiel war der Tod von Hans Züllig. Ich glaube, es gab eine Aufführung zu seinen Ehren.
Dominique Mercy:
Ja, ja. Du meinst, der Punkt ist, dass wir manchmal Café Müller ohne Das Frühlingsopfer gemacht haben?
Dominique Mercy:
Ja, das haben wir ein paar Mal gemacht. Ich glaube, das erste Mal, dass wir das gemacht haben, war, als wir wieder in Italien auf Tournee gingen. Wir waren schon ein- oder zweimal dort gewesen, aber dies war der Beginn, von dem an wir öfter nach Italien kamen. Das war, als wir Sacre in Parma für das Teatro Due gemacht haben. Die einzigen Teile des Bühnenbildes, die wir hatten, waren der Tisch, die Stühle und die Drehtür, abgesehen davon, dass wir nur ihren Raum hatten, mit Betonboden, wie in Nancy. Dies war nach Nancy das erste Mal, dass wir es wieder alleine gemacht haben, und ohne das Bühnenbild, nur die Drehtür hinten, plus die Stühle natürlich und den Tisch.
Ricardo Viviani:
Und dann hast du die echten Wände für deine Szenen benutzt?
Dominique Mercy:
Ich kann mich nicht einmal erinnern, aber ich glaube, wir hatten eine Ecke. Zu dieser Zeit hatten wir noch keine Plexiglaswände. Wir hatten nur ein Plexiglas, das zu dem Bühnenbild gehört, und es könnte sein, dass wir das wahrscheinlich hatten, aber ich bin mir nicht einmal sicher, ob wir das hatten. Ich kann mich nicht erinnern.
Ricardo Viviani:
Ich glaube, Peter Pabst hat mir einmal erzählt, dass er die Plexiglaswände für Athen gemacht hat.
Dominique Mercy:
Ich glaube, es war für Athen, und gleich nachdem wir es gemacht hatten, dachte ich zuerst, es wäre für Avignon, aber ich glaube, es war für Athen, als wir es zusammen mit Das Frühlingsopfer im [Herodes Atticus Theatre Athens] gemacht haben. Mit den Plexiglaswänden haben wir das ein paar Mal hier in Wuppertal gemacht, definitiv in Avignon zusammen mit Das Frühlingsopfer. Wir haben mit den Plexiglaswänden an verschiedenen Orten je nach Betrachtungswinkel gearbeitet. Aber das haben wir auch, wenn wir Café Müller allein gemacht haben. Wir haben es auch auf Sardinien gemacht, ich glaube, es war in Sassari. Auf Sardinien war es wunderschön. Ich glaube, ich habe es das letzte Mal erwähnt. Es war das erste Mal, dass das Publikum am Anfang nicht gelacht hat, wenn ich Malou trage, sie immer herunterfällt und wieder in meine Arme kommt, dann hat Jan Minarik sie wieder in meine Arme gelegt, und sie fällt und wiederholt es noch einmal, wir machen es immer schneller, und dann machen wir es alleine. Das war das erste Mal, dass das Publikum nicht gelacht hat. Das war auf Sardinien. Ansonsten gab es bis dahin und danach nur wenige Male Publikum, bei dem das auch passierte. Dass die Spannung und die Aufmerksamkeit des Publikums so stark waren, dass sie nicht lachten, aber meistens haben sie gelacht. Dann haben wir es auch in Amsterdam gemacht, wir haben es in München gemacht, in einem kleinen Theater, vielleicht dem Prinzregententheater — einem kleinen, schönen kleinen Theater. Ich erinnere mich, dass es ein besonderes Ereignis war, weil — das ist nur eine Anekdote am Rande — es war das erste Mal, dass die Gewerkschaft der Techniker so stark war, wir haben die Bühne immer selbst vorbereitet, aber da durften wir keinen einzigen Stuhl anfassen. Also mussten wir einen Weg finden, Jean Laurent erinnert sich bestimmt daran, wir mussten entweder eine Ausrede oder einen guten Zeitpunkt finden, um alle Stühle so aufzustellen, wie wir es brauchten, aber es war verboten, Möbel auf der Bühne anzufassen.
Ricardo Viviani:
Das war wahrscheinlich etwas, das du auch in den Vereinigten Staaten erlebst, wenn du bei BAM spielst, weil sie auch diese Trennung der Aufgabengebiete haben.
Dominique Mercy:
Ja. Es gibt auch den Moment, in dem du kurz vor der Show nicht mehr auf die Bühne gehen darfst, und all diese Regeln, die völlig... So ist das nun mal.
Kapitel 4.4
StühleRicardo Viviani:
Apropos Stühle. Du hast schon erwähnt, dass es zuerst irgendwelche Stühle gab, egal welche man finden konnte, dann wurden sie irgendwann extra dafür gebaut, sie wurden vereinheitlicht. Aber was die Menge angeht: Wie viele Stühle gibt es? Und welche Variationen, welche Parameter gibt es in Bezug darauf, wie die im Raum plaziert werden?
Dominique Mercy:
Es gibt zwei Parameter: Einer ist der Raum. Weil die Bühne mit Stühlen gefüllt sein sollte, aber nicht so viele, dass es für die Person, die für uns sorgt, unmöglich wird, sie rechtzeitig für uns aus dem Weg zu räumen, ohne dass es zu gefährlich wird. Es birgt diese Gefahr in sich. Das ist also das, was der Raum verlangt, man sollte das Gefühl haben, dass genug Stühle da sind, um einen Grund zu haben, dass sie weggenommen werden. Vor allem für Pina, die während des Stücks die Augen geschlossen hat, [sie hört] Lärm, den die Stühle machen. Es ist eine Frage des Verhältnisses: Wenn es nicht genug oder zu viele Stühle gibt, [ist das ein Problem]. Wenn es zu viele Stühle gibt, stapeln sie sich irgendwann zusammen, und es ist, als würde man einen Stuhlblock schieben, der ein völlig anderes Geräusch macht. Und wenn es nicht genug sind, dann gibt es nicht genug Lärm für Pina, ich meine, für das Stück selbst. Visuell vermischt sich das, was Du siehst, mit dem, was du hörst. Das ist gleichbedeutend mit Gefahr: das Geräusch, dass plötzlich ein Stuhl in jede denkbare Richtung fliegt oder weggeschoben wird. Wenn es nicht genug Stühle gibt, dann wird es akustisch und optisch zu dünn. Aber frag mich nicht, wie viele Stühle es gibt. Ich habe keine Ahnung. Ich weiß es nicht. Es kommt auf den Raum an, der natürlich immer derselbe ist, wenn wir das Bühnenbild haben. Anders wird es, wenn der Raum variiert. Normalerweise, wenn man die richtige Bühne mit dem normalen Platz für das Bühnenbild hat, dann bleibt der Raum derselbe, aber wenn wir es mit dem Plexiglas machen, dann ist es viel flexibler: Da es auch Stühle außerhalb des Plexiglases gibt, gibt es viel mehr Stühle als normalerweise.
Kapitel 5.1
Erfahrungen teilenRicardo Viviani:
Café Müller wurde etwa 300 Mal gespielt, eines der meistgespielten Stücke, auch weil es ein sehr frühes Stück ist. Nach rund 100 Aufführungen gab es den Film. Die Verfilmung von Café Müller durch den WDR im Jahr 1987 wurde im Laufe der Jahre für viele Tanzstudenten weltweit zu etwas sehr Wichtigem. Es war ein Einstieg in die Ästhetik von Pina Bausch. Aber eigentlich wollte ich deine Eindrücke von dieser langen Zeit erfragen, in der ihr Café Müller gespielt habt und du immer wieder zu dem Stück zurückgekommen bist, immer da gewesen bist. Gab es für dich eine Veränderung für dich in der Art und Weise, wie du als Tänzer und als Person gereift bist?
Dominique Mercy:
Ich denke, wir haben das irgendwie durchgemacht, vielleicht indirekt. Wie dem auch sei, ob du es willst oder nicht, es gibt eine Entwicklung, es gibt eine Veränderung. Weil du mit 28 Jahren nicht dieselbe Person bist, wie wenn du es älter als 40 oder 50 Jahre machst, weißt du. Also, es gibt so viele Lebensabschnitte dazwischen, sodass du anders antwortest und reagierst, auf die Choreografie, auf das Thema und auf die Situation als zu Beginn. Das wurde mir viel stärker bewusst, als ich Videos ansah, um das Stück zu rekonstruieren oder es jemandem beizubringen. Du schaust dir einige Bänder an, einige Videos aus verschiedenen Zeiten, und dann erkennst du einige der Unterschiede. Sie sind nicht wirklich mit Absicht entstanden. Es gibt einige Unterschiede im Timing. Im Laufe der Zeit wurden uns auch, einige Zeitlimits bewusst. Und das ist etwas, das jedes Mal herauskam, oder bei einigen der Wiederaufnahmen, die wir mit Pina gemacht haben. Ich muss an Bandoneon und einige andere Stücke denken. Aber in Café Müller hing Pina, im Stück mit geschlossenen Augen, wirklich von den Geräuschen ab. Es gibt etwas, das wir nicht festgelegt hatten, oder worauf wir am Anfang nicht eigens geachtet haben: Es gibt Momente ohne Musik im Café Müller — es gibt ein Musikstück und dann gibt es einen Moment ohne Musik — und das ist die Zeit, die man sich nimmt, um von einer Aktion zur anderen zu kommen. Ich erinnere mich, dass ich nicht achtgegeben, dass ich ein anderes Timing hatte, mehr Zeit in Anspruch genommen habe, und Pina reagierte und sagte, das sei viel zu lang. Denn während du es tust, merkst du es nicht. Und meistens hatte sie recht, weil sie ihre Augen geschlossen hatte, sie war auf einer anderen Ebene auf Zeit angewiesen, und wenn eine Sache zu lange dauert, dann geht plötzlich zwar nicht die Spannung, aber etwas geht verloren. Das ist etwas, worauf du achten musst. Das ist etwas, das du anders fühlst, wenn du ein bestimmtes Alter erreichst, du reagierst anders, du fühlst und du erkennst das ein bisschen anders.
Dominique Mercy:
Ich erinnere mich, dass das für viele von uns auch bei Bandoneon sehr stark war. Weil Bandoneon ein Stück ist, bei dem wir Zeit brauchten, es ist sehr langsam, und als wir es wieder aufgenommen haben, wollte sie plötzlich, dass wir es aufschreiben. Wir hatten 'cues', aber nicht genaue. Bei der Wiederaufnahme bat sie uns, es aufzuschreiben. Sie wollte wissen, wann wir was machen. Irgendwann verstand sie das nicht mehr. Sie fragte, aber wann machst du das? Ich sagte: „Mehr oder weniger da“. Je mehr sie sich dann damit beschäftigte, desto mehr musste oder wollte sie ein bisschen mehr Struktur schaffen, um den Zeitaufwand [für Handlungen] zu reduzieren. Sie hatte das Gefühl, dass es keinen Grund dafür gab: „Warum nimmst du dir dafür so viel Zeit?“ Mit den Jahren reagierst du unterschiedlich auf solche Dinge. Etwas, das zu einem bestimmten Zeitpunkt notwendig war, empfindet und beurteilt man anders.
Ricardo Viviani:
Pina Bausch sah sich also immer alle Stücke an und korrigierte alles, bis auf Café Müller, das sie sich nicht ansehen konnte. Bis zu einer Aufführung, bei der sie aus gesundheitlichen Gründen nicht auftreten konnte, 2005 in London, als Héléna Pikon ihren Part übernahm. Robert Sturm war an ihrer Seite, und er erzählt, dass sie zu dem Zeitpunkt, als sie das Stück sah, die Lichter überprüfen wollte. Die Beleuchtung war dieselbe, die die ganze Zeit gemacht wurde. Es gab keine Veränderung mehr.
Dominique Mercy:
Mehr oder weniger wurde es immer ein bisschen korrigiert
Ricardo Viviani:
Und zu dieser Zeit hat sie das Stück radikal neu beleuchtet?
Dominique Mercy:
Ich glaube, sie hat viel mehr an dem Licht gearbeitet. Ja. Ich habe nicht so viel an diesem Prozess teilgenommen, daher konnte ich nicht mehr dazu sagen. Was hat Robert dazu gesagt?
Ricardo Viviani:
Oh, er sagte, dass, weil sie es tatsächlich sehen konnte und das Beleuchtungskonzept im Grunde dasselbe war, sie es trotzdem überprüfen musste, und sagte, dass sie es an diesem Punkt heller und dort dunkler oder eine andere Änderung haben wollte. Dies bestätigt dein Argument, dass du mit der Zeit beginnst, die Dinge anzupassen: Das Timing und einige Aspekte müssen überprüft werden, um das richtige Tempo beizubehalten. Es gibt also so etwas wie eine übergreifende Logik oder ein Gefühl in dem Stück, das neu verknüpft werden muss.
Kapitel 5.2
Rückkehr zur EntstehungszeitDominique Mercy:
Oh ja. Aber es ist lustig, weil es mich dazu bringt, über eine andere Gelegenheit nachzudenken, wo sie sich das Stück ansehen musste. Das war in dem Jahr, als wir in Japan waren, und sie hatten eine Vereinbarung mit dem Fernsehsender. Wir haben Café Müller gedreht. Jeden Abend hat sie sich die Rushes (das Rohmaterial) angesehen. Ich erinnere mich, eines Tages kam sie zu mir und sagte: „Ich weiß es nicht. Ich habe die Rushes gesehen und wenn du reinkommst, trägst du irgendwie schon so viel mit dir herum. Ich meine, du bist irgendwie... — Ich kann mich nicht mehr genau an die Worte erinnern — irgendwie schon so traurig.“ Und sie hatte recht! Sie hatte recht, denn ich erinnere mich, dass ich am Anfang immer versucht habe, irgendwie hereinzukommen, ohne aufzutreten, um nicht plötzlich mit einem Erlebnis hereinzukommen. Sondern nur so, dass das Publikum irgendwann sah — oh, da ist jemand. Du weißt schon, ich versuche unsichtbar zu sein, aber irgendwie reinzukommen. Und im Laufe der Jahre, mit all den unterschiedlichen Erfahrungen und mit dem, was man mit sich trägt, experimentiert, auch mit den verschiedenen Besetzungen, habe ich vielleicht etwas zu viel aus diesem Hereinkommen gemacht. Ich habe beim Eintreten zu viele Dinge mit mir herumgeschleppt. Es war unglaublich, weil sie mir das gesagt hat, habe ich es also korrigiert. Ich habe versucht, alles loszuwerden, was ich hatte, um so frei wie möglich reinzukommen. Es ist unglaublich, als ich das Stück beendet hatte, war ich fast nicht müde. Ich hatte viel mehr Energie. Es gab mir einen weiteren Input, es versetzte mich in einen anderen Seinszustand. Mir wurde es an diesem Tag bewusst, und von diesem Tag an hatte ich eine andere Energie, das Stück zu machen. Es ist sehr interessant. Nicht wahr?
Dominique Mercy:
Ich erinnere mich an etwas Ähnliches oder nicht ganz Ähnliches, weil es zu einem anderen Zeitpunkt kam. Ich erinnere mich, als wir Iphigenie wieder gemacht haben, war es dasselbe. Irgendwann, nachdem wir es wieder zusammengebaut hatten, sah ich mir das ältere Video noch einmal an und mir wurde klar, wie viel freier ich war. So wie [einfach] zu gehen, ich hatte eine andere Energie und ich habe versucht, die wiederzufinden. Es gab mir viel mehr Energie. Ich bin zu einer jungfräulicheren Körperlichkeit zurückgekehrt — wenn man das so ausdrücken kann.
Ricardo Viviani:
Ja. Während du darüber sprichst, habe ich dieses Bild: Da muss ein Weg beschritten werden. Das Stück existiert, und dann gibst du ihm Form. Du gibst eine Manifestation davon, aber das Stück ist da, es ist etwas, das existiert. Und wenn du nicht hineinkommst und diesen Pfad durchläufst, kämpfst du tatsächlich dagegen an, und das nimmt dir Energie.
Dominique Mercy:
Ja, sicher. (...) Das ist wahrscheinlich tatsächlich, worum es geht. Einerseits ist es schön, diese Erfahrungen zu sammeln und in eine Rolle, in einen Weg, in ein Stück hineinzuwachsen, aber gleichzeitig ist da etwas, das nicht verloren gehen darf. Es ist das Gleichgewicht all dieser Dinge, die extrem empfindlich und sensibel sind. Und wenn du nicht aufpasst, kannst du in etwas hineinfallen, das plötzlich schief geht. Ich versuche auch, mir dessen bewusst zu sein und darauf zu achten, wenn ich meine Rollen unterrichte. Die meisten Tänzer, die sich in dieser Situation befinden, sind natürlich jünger als ich, aber auch jünger als ich war, als ich die Rolle zum letzten Mal getanzt habe — manchmal sogar zum ersten Mal. Das versuche ich nicht zu vergessen: In welcher Energie war ich? In welcher Qualität oder Stimmung war ich, als wir diese Stücke zum ersten Mal gemacht haben? Was wurde aus ihnen, als ich ein bisschen reifer, älter wurde? Um nicht nur ein Beispiel zu nennen, sondern auch auf diese frische oder neue, unberührte Situation hinzuweisen.
Ricardo Viviani:
Jungfräulich ist ein gutes Wort, um den Moment deiner eigenen Schöpfung zurückzugewinnen, aber das ist auch eine Fähigkeit, die du entwickelst. Und das sollte meine nächste Frage sein: Wenn du diese Rollen jetzt unterrichtest, welche Art von Reflexion erfordert das von dir? Und du hast gerade gesagt, dass es darum ging, diesen Moment der Schöpfung zurückzugewinnen.
Dominique Mercy:
Ja, eine der Beschäftigungen oder ein Faktor, der in die Arbeit einbezogen werden muss, ist, die Qualität nicht zu vergessen, die am Anfang da war? Richtig.
Dazu passend
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