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Die Räume, die man im Theater, auf einer Bühne vorfindet, sind nicht irgendwelche. Sie können einen beengen oder den Horizont weit aufreißen. Sie können mit ihrem Charme für sich einnehmen oder scheinbar Vertrautes vorführen wie noch nie gesehen. Sie können den Zuschauer herausfordern, irritieren, verstören oder schlichtweg zum Staunen verführen. Besondere Räume sind es, die einen im Theater erwarten, herausgehoben durch den Ort und das, was sich in ihnen ereignet. Im schlechten Fall sind Bühnenbilder bloße Ausstattung, noch schlimmer: Dekoration, ein verzichtbares Beiwerk. Im guten Fall sind sie ein eigenständiger Beitrag zum Stück, das in ihnen noch einmal in einem ganz anderen Licht erscheint. Sie nehmen den Inhalt des Stückes auf, spiegeln ihn oder widersetzen sich ihm. Sie verdeutlichen die inhaltlichen Linien und schaffen ihnen eine eigene Dimension. Im eigentlichen Sinn stellt ein Bühnenbild die handelnden Personen erst in die Zeit und in den Raum. Ein heikles Widerspiel ist da zu leisten zwischen konkreter Szene und Überschreitung in die Phantasie, dass am Ende für jeden Zuschauer genügend Raum bleibt für eigene Assoziationen, Gedanken und Bilder.

Wie kaum ein anderer hat Rolf Borzik die Kunst beherrscht, die rechte Balance zwischen der wirklichen und der imaginierten Welt zu halten. Entscheidend hat er in den ersten Jahren mit seinen Bühnenbildern und Kostümen das Erscheinungsbild des Tanztheaters geprägt und dazu beigetragen, ihm ein unverwechselbares Gesicht für die Zukunft zu geben. Seine Entwürfe sind revolutionär, radikalisieren sie doch die Inhalte, die das Tanztheater berührt, ohne je zu bevormunden. Zwingend sind die Erscheinungsbilder dieser Stücke in ihrer absoluten Folgerichtigkeit. Zugleich eröffnen sie dem Blick eine ungeheure Offenheit und Weite. Das gilt für die scheinbar ‘geschlossenen’ Räume wie in Blaubart, Café Müller oder Kontakthof ebenso wie für die Landschaften der Elemente in Frühlingsopfer oder Arien. Nie sind diese Räume, was sie auf den ersten Blick zu sein scheinen. Immer spielt in ihnen auch das Gegenteil mit. In den Altbauzimmern etwa von Blaubart und des Macbeth-Projekts ist mit trockenem Herbstlaub und rinnendem Wasser auf irritierend selbstverständliche Weise auch Natur anwesend. In der Wasserwüste der Arien steht gewöhnliches Mobiliar, tragen die Tänzer prächtige Abendgarderobe. Es sind diese Gegensätze, die aufmerken und staunen lassen. Die gewöhnlichen Zuordnungen, was realistisch und was phantastisch sei, greifen nicht mehr. In der planvollen Verwirrung, die allzu Vertrautes ungewohnt neu kombiniert, kann Poesie - und mit ihr die Phantasie des Zuschauers - Platz nehmen. Es sind ungewöhnlich offene Einladungen an das Publikum, die ihm lauter Bekanntes anbieten, aber nur um es damit in ein Reich der Phantasie zu entführen, in dem tatsächlich alles möglich ist. Stets sind die Einbruchstellen des Außergewöhnlichen genau kalkuliert, einem jeden Stück in seiner eigenen Art und Tonart angemessen.

Verblüffend ist die Vielfalt der Entwürfe, die gerade in den frühen Jahren des Tanztheaters den verschiedensten Genres gerecht werden mussten: vom reinen Tanzstück über die Tanzoper bis hin zu Operette, Revue und Tanztheaterstück. Und doch springen die Szenen- und Kostümbilder nicht. Unverkennbar ist in ihnen ein durchgängiger Stil zu erkennen, ein nicht in erster Linie ästhetischer, sondern vor allem einer der Haltung. Wie die Stücke selbst verkörpern auch die Räume und Kleider eine bestimmte Haltung zur Welt. Die wird mit und durch alle Sinne hindurch wahrgenommen, vorurteilsfrei und in jede Richtung offen. In diesem Sinne sind diese Räume durchaus ‘Freiheitsräume’, denn sie geben jedem Zuschauer zurück, was er so vielleicht zuletzt in der Kindheit besessen hat: die Fähigkeit, sich alles vorstellen zu können, was möglich ist.

<p>Colleen Finneran-Meessmann in <em>Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper »Herzog Blaubarts Burg«</em> von Pina Bausch</p>

Colleen Finneran-Meessmann in Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper »Herzog Blaubarts Burg« von Pina Bausch

Pina Bausch Foundation

Nah an dem, was wirklich ist

Es mag am Anfang einer der stärksten Impulse für das Erscheinungsbild des Tanztheaters gewesen sein, sich nicht - wie Pina Bausch es einmal ausgedrückt hat - unterscheiden, sich nicht abheben zu wollen vom Alltag. So wurden scheinbar normale Kleider, Anzüge, Hemden, Hosen, festliche Abendgarderobe oder leichte Sommerkleider, schnell zu einem Erkennungssignal des Tanztheaters. Gleichwohl sind alle diese ‘Kostüme’ stets genau abgestimmt auf die Grundtemperatur eines Stückes, die Stimmung einer Szene. Der Wechsel von starker Farbigkeit zu gedeckten Tönen oder klaren Schwarz/Weiß-Kontrasten spiegelt oder kontrastiert die Emotionen auf der Bühne. Nichts ist zufällig, aber ebenso wenig wirken die Kostüme gewollt oder stilisiert. Was die Personen auf der Bühne tragen, tragen sie mit großer Selbstverständlichkeit; und doch entfalten die Kleider einen großen Reichtum an Farben und Formen.

Ganz ähnlich wirken die Bühnenräume. Wenn im Brecht/Weill-Doppelabend Die sieben Todsünden/Fürchtet Euch nicht der Originalabdruck einer Straße den Spielort definiert, so suggeriert das vielleicht zunächst eine Art Realismus. Der Ort mag Anlass bieten zu allerhand Assoziationen - von der Straße des Lebens bis hin zur Gosse, in der man landen kann. Tatsächlich aber ist die Straße lediglich ein Hinweis, eine Art Fingerzeig darauf, dass hier etwas von hier und von heute verhandelt wird. Zugleich liegt dieser Ort derart frei (und sichtbar von Scheinwerfern umgeben) im Raum, dass der Zuschauer zu keinem platten Wirklichkeitssinn verpflichtet wird. Er kann ahnen, dass es hier noch um eine andere ‘Wirklichkeit’ geht: eine innere der Gefühle.

Auch die geräumigen Altbauzimmer des Blaubart, des Macbeth-Projektes, das leere Café in Café Müller, der alte Ballsaal mit Kinoleinwand in Kontakthof - all diese Räume wirken vertraut, berührbar, nah. Und doch sind sie zugleich in ein Zwischenreich zwischen Traum und Wirklichkeit gelegt. In Blaubarts „Burg“ liegt welkes Herbstlaub, das riecht und raschelt, die Bewegungen in sich aufnimmt und Spuren in den Raum schreibt. Das Schloss der Macbeths ist alles andere als herrschaftlich, sondern ein mit altem Mobiliar voll gestelltes Zimmer voller Spielzeug. Pausenlos rinnt Wasser in den nach vorn hin abgesenkten Raum - wie das hörbar gemachte Vergehen der Zeit oder wie ein Memento einer nie zu tilgenden Schuld.

Es ist die besondere Qualität dieser Räume, dass sie die Phantasie anregen und ihr zugleich einen weiten Auslauf schaffen, ohne je eine Interpretation vorzuschreiben. Konkret sind sie, sinnlich fassbar und erfahrbar, und doch öffnen sie sich für eine Vielzahl möglicher Perspektiven. Es ist nicht allein die Dimensionierung einer großen Opernbühne, die ihnen diese Weite verschafft. Es ist der Charakter der Räume, die ermöglicht, dass alles in ihnen Platz nehmen darf: das, was man kennt ebenso wie das, was man kaum für möglich gehalten hätte.

Wie das Außen nach innen wandert

Wenn Pina Bauschs Stücke - wie sie selbst einmal gesagt hat - von innen nach außen wachsen, so scheinen die Bühnenräume dazu zuweilen eine Art komplementäre Gegenbewegung zu vollziehen: Das Außen wandert nach innen, die Natur breitet sich auf der Bühne aus. Es ist wie in der Erzählung Lenz von Georg Büchner: Die Natur ist nicht mehr das Gegenüber, ein fremdes Außen, sondern ein ausgedehntes Schaufeld des Innenlebens.

In Komm, tanz mit mir zitiert eine steile weiße Rutschbahn einen Schneehügel. Totes Geäst liegt auf dem Boden, mit dem sich die Akteure hetzen und jagen. Am Ende gar kracht ein schwerer Baum aus dem Bühnenhimmel in die Szene. In der kalten Winterlandschaft versucht sich die Protagonistin von den meist in dicken Mänteln vermummten Männern mit dem Titel gebenden Lied ein wenig Zuwendung und Aufmerksamkeit zu ertrotzen.

In der Operette Renate wandert aus haben sich leuchtend weiße Eisberge in den Raum geschoben. Strahlend hell ist diese Eislandschaft alles andere als bedrohlich. Eine große Bühnenleiter steht wie ein Hinweis darauf, dass man sich - trotz all der verführerischen Schönheit - im Theater befindet. Die Protagonistin telefoniert mit ihrem Geliebten durch eine Blume; und am Ende bringen die Tänzer ein wahres Meer frischer Blumen in den prächtigen Eispalast. Gegensätze überall - Gegensätze, die Reibungen erzeugen. Die nicht die gewohnten, bekannten Bilder abrufen und bestätigen, sondern sie durch neue, weitaus reichere ersetzen.

Über die Macht der Elemente

Wie sehr die Räume, die Rolf Borzik entworfen hat, den Tanz in neue, vorher nie gesehene Bezüge rücken, wird vielleicht am deutlichsten durch die eindrückliche Macht der Elemente.

In Frühlingsopfer, Pina Bauschs Choreographie von Igor Strawinskys Le Sacre du printemps, bedeckt eine dicke Schicht Erde den Bühnenboden. Unberührt ist diese Arena zu Anfang. Gleichsam schutzlos betreten die Tänzer den Raum: mit bloßem Oberkörper und einfachen schwarzen Hosen die Männer, die Frauen in dünnen Trägerkleidern, die, mit der Zeit verschwitzt auf der Haut klebend, mehr und mehr den Körper durchscheinen lassen. Wie alle Räume Borziks ist auch dieser von jener genialen Einfachheit, die die Essenz eines Stückes zum Vorschein bringt. Er begreift beides in eins: Die Erde verweist auf das atavistische Ritual, das dem Libretto zugrunde liegt. Zugleich lässt die Offenheit der Szene eine Direktheit zu, die jeden Zuschauer unmittelbar angeht. Keine Symbolik, keine Staffage ist nötig, um die Vereinigung von Eros und Thanatos sinnlich erfahrbar zu machen. Jede Bewegung gräbt sich während des Stückes in die Erde ein. So schreibt der Boden die Choreographie auf und bewahrt sie in sich vor ihrer Flüchtigkeit. Aber nicht nur die Bühne verändert sich, sondern auch die Tänzer. Die Erde haftet an den Kleidern auf der Haut, in den Gesichtern. Die Bewegungen sind dem Widerstand des Bodens abgetrotzt, wo alle Leichtigkeit fehl am Platze wäre. Schwer ist dieser Opfertanz, der Erde abgerungen, und bezieht gerade daraus seine Dynamik und Energie. Die Körper können sich am Widerstand der Erde aufladen und verausgaben, nicht nur leidend, sondern ebenso kraftvoll.

Fast schleichend dagegen ist die Kraft des Wassers in Arien, das auch hier die gesamte, bis zu den Brandmauern offene Bühne bedeckt. Es zieht in die schönen Kleider der Abendgesellschaft, macht sie schwer, modelliert allmählich die Körper heraus. Bei schnellen Bewegungen spritzt es auf oder verlängert, im Schwung, den Tanz in den Raum. Es fordert zu kindlicher Badelust heraus und lässt - im Wortsinn - einen schon mal im Regen stehen. Es macht Geräusche, leise, plätschernde oder solche einer überbordenden Energie. Und auch das Wasser ist ein Widerpart, an dem man sich abarbeiten kann, eine Landschaft voller Poesie, die die einfache, unmittelbare physische Wahrheit des Tanzes zum Vorschein bringt.

<p>Josephine Ann Endicott und Colleen Finneran-Meessmann in <em>Der zweite Frühling</em> von Pina Bausch</p>

Josephine Ann Endicott und Colleen Finneran-Meessmann in Der zweite Frühling von Pina Bausch

Helmut Drinhaus

Von der Unschuld der Tiere

In Arien gibt es auch eine wunderbar zarte, ebenso traurige wie schöne Liebesgeschichte einer Frau mit einem Nilpferd. Behäbig stapft es durch die Szene, schaut still, nimmt ein Bad, steht stumm - wie eine unerhörte Liebeserklärung - bei der Tafel, an der das Ensemble Platz nimmt.

In Keuschheitslegende sind es riesige Krokodile, die sich auf einem gemalten Meer wie selbstverständlich zwischen den Akteuren bewegen. In einer Szene werden sie mit rohen Fleischbrocken gefüttert, ansonsten sind sie einfach anwesend. Viele Assoziationen mögen sich da einstellen: an die Gefräßigkeit der Liebe oder die gefährliche Intensität der Triebe.

Auch die Tiere - echte oder nachgebildete - repräsentieren Natur, aber nicht nur die gleichsam ‘äußere’ sondern ebenso die innere Natur der Gefühle. Wie das ausgestopfte Reh übernehmen die Tiere in den Stücken des Tanztheaters immer wieder eine Art stumme Zeugenschaft. Sie scheinen - unberührt von dem Auf und Ab der menschlichen Leidenschaften, Hoffnungen und Sehnsüchte - in einem Stand beneidenswerter Unschuld zu ruhen. Nichts kann sie offenbar daraus vertreiben. Anders als die Menschen stehen sie der Welt fraglos und damit auch sorglos gegenüber. Im Bewusstsein seiner selbst und der Welt ist der Mensch dagegen von diesem paradiesischen Zustand ausgeschlossen. Die Tiere erinnern daran, dass er das Glück, mit sich und der Welt eins zu sein, erst selbst wieder herstellen muss. Er ist aus dem Paradies vertrieben und sollte es denn ein solches Glück geben, dann ist es allein in der Zukunft zu suchen.

Es ist, als drehe sich das Tanztheater in seinem innersten Kern immer wieder um diese Frage, als erprobe es mit nimmer müdem Elan neue Antworten. Eine Sisyphosarbeit mag das sein, eine vielleicht nie zu beantwortende Frage. Das Entscheidende ist, dass man sie stellt und ihr mit aller Wahrhaftigkeit auf den Grund zu gehen versucht. Nicht anzukommen ist wichtig, sondern unterwegs zu sein.

Die Räume, die Kleider, die Dinge, die auf der Bühne benutzt werden, sie alle sind ein ebenso wohl bemessener wie selbstverständlicher Teil dieser Suchbewegung. So hat Rolf Borzik Szenenbilder geschaffen, die die Chronologie der Ereignisse in sich aufheben - gegen die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit. Fast immer haben sich am Ende die Orte des Geschehens verändert, so wie umgekehrt die Tänzer oft Spuren der Materialien an sich tragen. Das Verhältnis der Menschen zu den Dingen wird sichtbar, ja der Mensch in seinen existentiellen Dimensionen von Zeit und Raum überhaupt erst sinnlich konkret erfassbar und erfahrbar.

Es sind Räume, die Zeitspuren verzeichnen, keine statischen, unveränderbaren Schauplätze, sondern Räume in Bewegung. Genau verzeichnen sie das tägliche Drama der Existenz. Insofern sind es Erinnerungsräume gegen das Vergessen und Vergehen. Zugleich öffnen sich diese Räume einladend für die Phantasie des Zuschauers, der mit den poetischen Zeichen daran erinnert wird, dass alles möglich ist, auch das, was man noch nicht gesehen und noch nie gedacht hat.

Aus Rolf Borzik und das Tanztheater, veröffentlicht vom Tanztheater Wuppertal Pina Bausch anlässlich des 20. Todestages von Rolf Borzik im Jahr 2000


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