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Interviewte Person
Interviewee
Robert Sturm

Recherche, Transkription und Interview
Research, Transcription and Interview
Ricardo Viviani

Kamera
Camera
Sala Seddiki

Lektorat
Proofreading
Gertraud Johne

Übersetzung
Translation
Steph Morris

© Pina Bausch Foundation

Interview mit Robert Sturm, 20.9.2018

Robert Sturm kam während der Entstehungszeit von Wiesenland ans Tanztheater Wuppertal. Sein Interview ist reich an Details über diese Zeit. Er kommt aus dem Sprechtheater, aber Tanz war dank seiner ungarischen Stiefmutter, einer Balletttänzerin, bereits in seinem Leben präsent. Das Kennenlernen der Arbeitsmethoden von Kreation und Repertoirepflege von Pina Bausch prägten seine Praxis nachhaltig. Er wurde ein sehr enger Mitarbeiter des Ensembles in der täglichen Arbeit. Durch die Beschreibung seiner unterschiedlichen Tätigkeitsbezeichnungen erhält man Einblick in die Organisation der Kompanie unter der Leitung von Pina Bausch. Im letzten Teil seines Interviews spricht Robert Sturm über seine Zeit als Co-Intendant des Tanztheater Wuppertal Pina Bausch.

Das Interview wurde auf Deutsch geführt und ist in englischer Übersetzung verfügbar.

Interviewte PersonRobert Sturm
Interviewer:inRicardo Viviani
KameraSala Seddiki

Permalink:
https://archives.pinabausch.org/id/20180920_83_0001


Inhaltsübersicht

1

1:40

Ricardo Viviani:

Vielleicht kannst du uns über deinen Hintergrund in Bezug zu Theater und Tanz erzählen.

Robert Sturm:

Ich bin eigentlich im Theater aufgewachsen, weil beide Eltern am Theater tätig waren. Mein Vater war Schauspieler und meine Mutter war Schauspielerin und als ich fünf Jahre alt war, hat mein Vater eine ungarische Balletttänzerin geheiratet. Also kam da schon mal Tanz in mein Leben, ein bisschen, ich habe immer beim Training unter dem Klavier gesessen und solche Geschichten. Das war in Gera, wo ich auch das erste Mal dann 1987 Café Müller und Sacre gesehen habe auf der Gastspielreise noch in der damaligen DDR. Ich war damals auch am Theater, da hatte ich dann schon Abitur hinter mir und den Wehrdienst, etwas abgekürzt, und wollte eigentlich Regieassistent am Schauspiel werden. Was mir aber die damalige sogenannte Kaderabteilung untersagt hat wegen meiner politischen Einstellung, das haben sie mir auch offen so gesagt. Da mich die Leute im Theater aber von klein auf kannten, haben sie gesagt, sie setzen mich nicht auf die Straße und haben mich in die Tonabteilung gesteckt. Was ging, weil es eine uralte Technik war, die sehr leicht zu lernen war, ansonsten habe ich technisch ja keine Ahnung. Da bin ich im Nachhinein sehr froh drüber, weil ich alle Sparten mitgekriegt habe: Schauspiel, Oper, Tanz, Konzerte, also mal das ganze Spektrum hatte. Aber erst im Nachhinein, damals habe ich mich natürlich geärgert, dass ich nicht gleich mit dem Schauspiel arbeiten konnte.

Robert Sturm:

Ja, und dann kam 87 Pina Bausch. An dem Tag durfte ich nicht arbeiten – wegen der Westkontakte, durfte aber mit einem Ticket in die Aufführung und war natürlich ziemlich fasziniert von beiden Stücken, von Café Müller und Sacre. [Ich] bin auch danach angesprochen worden, dass es noch eine schöne Feier gibt im Interhotel, wo die Kompanie, glaube ich, gewohnt hat, wo ich dann nicht reingelassen wurde von Mitarbeitern des Staatssicherheitsdienstes. Wenn mir damals jemand erzählt hätte, dass wir heute hier sitzen, damit ich über meine Arbeit mit Pina Bausch erzähle, hätte ich das wahrscheinlich als letzter geglaubt. So, das war jedenfalls meine allererste Begegnung. Vorher hatte ich den Namen Pina Bausch mal gehört, aber wusste nicht wirklich, was das ist, was da anders ist an dem Tanz, also hatte mich auch noch nicht damit beschäftigt. Nun war der Abend natürlich ziemlich, sagen wir mal, überraschend. Das hat neue Welten geöffnet, was Tanz, aber auch was Theater insgesamt sein kann.

Gera Bühnen der Stadt Gera Pina Bausch Café Müller Das Frühlingsopfer Aufführung von „Café Müller“ von Pina Bausch mit Tanztheater Wuppertal in Gera (DDR), 31. Mai 1987 Aufführung von „Das Frühlingsopfer“ von Pina Bausch mit Tanztheater Wuppertal in Gera (DDR), 31. Mai 1987 Programmheft zu „1980 – Ein Stück von Pina Bausch“, „Das Frühlingsopfer“ und „Café Müller“ von Pina Bausch mit Tanztheater Wuppertal in Berlin, Cottbus, Dresden und Gera, 27.05.1987–07.06.1987

Robert Sturm:

Dann bin ich ja 1989 Anfang des Jahres, also ein knappes Jahr bevor die Mauer fiel, in die Bundesrepublik ausgereist, war erst in Braunschweig und habe dann in Köln angefangen Theater-, Film- und Fernsehwissenschaft zu studieren. [Ich] bin natürlich auch ab und zu nach Wuppertal gefahren, um weitere Aufführungen des Tanztheaters zu sehen, hatte aber nie die Idee, hier nach einem Job zu fragen, weil ich mich immer mit Schauspielen beschäftigt habe, sowohl Theater als auch Filmbereich. Dass ich mit Tanz / also Pina Bausch war ja doch für mich auch Choreografin in erster Linie, auch wenn die Stücke teilweise sehr gemischt waren, aber ich habe sie fasziniert geschaut und zur richtigen Begegnung kam es dann als ich ...

2

5:36

Robert Sturm:

Die Vorgeschichte war, dass ich 1993 mein Studium eigentlich unterbrochen habe in Köln, um mit einem Regisseur aus München [zu arbeiten], der wusste, dass ich seit meiner Kindheit über meine Stiefmutter Ungarisch gelernt habe, ans Nationaltheater Budapest eingeladen war für zwei Inszenierungen, der mich gefragt hat, ob ich nicht Lust habe mitzukommen, damit er da nicht alleine unter Fremden ist. Und das habe ich gemacht und bin halt in Budapest hängengeblieben, da wurde gerade ein neues Theater gegründet. Die haben mich gefragt, ob ich mitmachen will als Dramaturg und Regieassistent. Das habe ich auch gemacht, und jedenfalls – ich habe auch angefangen eigene Inszenierungen zu machen – jedenfalls wurden daraus 6 Jahre, bis ich nun im Sommer 1999 einen Anruf bekam vom ungarischen Theaterinstitut, dass Pina Bausch Ende des Sommers nach Budapest kommt mit ihrer Kompanie, beziehungsweise mit der zukünftigen Besetzung eines Stückes, also Teilen der Kompanie, um eine Research zu machen von, ich glaube, es waren sogar 3 Wochen, nicht nur 2. Und ob ich Lust hätte, sie zu begleiten, weil sie keine Übersetzer oder Touristenführer möchten, sondern Theaterleute, die ein bisschen genauer einschätzen können, was an Budapest, an Ungarn für die Arbeit interessant sein könnte für Pina – an Impressionen. Da habe ich natürlich zugesagt, weil das für mich noch in die Sommerferien fiel. Und so habe ich Pina kennengelernt und viele Mitglieder der Kompanie damals. Das war dann die Vorbereitung für Wiesenland. Wo wir halt gemeinsam durch Budapest gezogen sind, aufs Land gefahren sind, Impressionen gesammelt haben. Proben gab es in dem trafó damals als Probenraum, ein zeitgenössisches Tanzzentrum. Ja, dann war die Zeit um, die 3 Wochen, und dann gab es ein paar Gespräche, ich weiß noch mit Urs Kaufmann damals, Matthias Burkert war dabei. Ich dachte, wie schade, jetzt ist das wieder vorbei, ich sehe es erst, wenn ihr nach Budapest kommt mit dem fertigen Stück, oder vielleicht in Wuppertal, wenn ich es schaffe. Da kam der Gedanke auf, dass eigentlich vielleicht noch ein Assistent fehlen würde oder zumindest nicht schaden könnte. Warum, weiß ich jetzt gar nicht, was da die hiesige Vorgeschichte war. Sicher auch wegen des Ungarischs, dass man weiter das Stück betreut, das schien mir so das Offensichtlichste. Jedenfalls entstand dann die Idee, dass, ich weiß nicht mehr, ob Matthias oder Urs oder jemand anders schon mal mit Pina spricht, ob das nicht eine schöne Idee wäre, dass ich dabeibleibe, und dann haben wir am letzten Abend in Budapest / weiß ich noch, [da] waren wir in einem Tanzhaus, wo ungarischer Volkstanz unterrichtet wurde für jeden, der Lust hatte. Also eine komplett offene Geschichte. Da war auch die Kompanie und da haben wir uns ganz lange, bestimmt ein, zwei Stunden mit Pina in einer Ecke unterhalten, aber sie meinte, es fühlte sich ja sehr gut an mit mir, sie müsste natürlich [nach]denken, wie immer, nicht so schnell entscheiden, und wir haben über alles Mögliche geredet, außer eigentlich über Theater. Sie wollte nichts wissen von meinen Stücken oder dass ich Kritiken oder Videos schicke, oder / Das war einfach: Man hat sich über Gott und die Welt unterhalten und daraus hat sie irgendwie gesagt: So, das fühlt sich gut an, sie überlegt, ich bekomme Bescheid. Das dauerte natürlich. Dann habe ich auf Risiko alle meine Inszenierungen für die Spielzeit – ich war da freischaffend, also konnte halbwegs frei mit mir umgehen – abgesagt. Für den Fall, dass Pina ja sagt, wollte ich mir natürlich die Chance nicht entgehen lassen, mal eine Arbeit mit Pina Bausch zu machen. Ja, und dann kam irgendwann der Anruf und dann haben wir irgendwie die Termine so fixiert, dass ich immer, wenn das neue Stück probiert, in Wuppertal bin, aber eben nur für dieses Stück. Dann war ich zwei Mal da, ich glaube, immer so 2 Wochen im Herbst 99. Wir haben einen Gastvertrag gemacht. Dann fiel mal eine Periode aus, weil Pina sagte / Irgendwie gab es, glaube ich, Verletzungen von einer Tournee und es gab keine neuen Stückproben, dann kam ich nicht. Und nachdem ich das zweite Mal da war und vorhatte im Januar oder so wiederzukommen, klingelte irgendwann mein Handy und da kam die Frage, ob ich nicht mit dem nächsten Flieger nach Wuppertal kommen kann und helfen kann für alle Stücke, die jetzt in der Spielzeit sind. Einfach da sein, weil Pina noch Hilfe braucht. Leute krank und / "Den nächsten [Flieger] nicht, aber übermorgen versuche ich es zu machen." Und dann bin ich halt am übernächsten Tag nach Wuppertal geflogen, ohne richtig zu wissen, was mich erwartet. Das war dann, als ich aus dem Flieger kam, in Wuppertal ankam im Theater, die Generalprobe von Iphigenie, wo ich gleich neben Pina saß und keine Ahnung hatte, was ich hier wirklich machen soll, weil das dann reiner Tanz war. (lacht) Wo bei mir schon mit den Namen der Bewegungen und so die Probleme ihren Anfang nahmen. Aber da war noch Marion Cito dabei, das haben wir alles ganz gut hingekriegt. Interessanter wurde es dann mit den nächsten Stücken, wo ich eben wirklich bei den Probenprozessen anfing dabei zu sein. Ich glaube Fensterputzer war in der ersten Spielzeit, das Projekt Kontakthof Senioren, wo ich viel bei den Proben war, noch mit Beatrice, auch ganz oft ohne Pina, allerdings mehr um zu schauen und zu unterstützen. Habe mal die Musiken abgespielt und so was. Und einfach zugeguckt, wie das läuft. Ja, und so hat sich das immer mehr verfestigt, bei Wiesenland war ich sowieso mit dabei. [Ich war] nicht der einzige Assistent natürlich, da war noch Jan Minarik dabei und Irene Martinez und Marion Cito war auch nach wie vor [da].

Budapest Ungarn Opernhaus Wuppertal Beatrice Libonati Irene Martínez Ríos Jan Minařík Marion Cito Matthias Burkert Pina Bausch Urs Kaufmann Der Fensterputzer Iphigenie auf Tauris Kontakthof. Mit Damen und Herren ab „65“ Wiesenland Aufführung von „Iphigenie auf Tauris“ von Pina Bausch mit Tanztheater Wuppertal im Opernhaus Wuppertal (Deutschland), 10. Dezember 1999
11:53

Robert Sturm:

Ja und dann lief die Wiesenland-Premiere, dann sind wir nach Budapest gefahren. Dort fing das eigentlich an, dass ich auch mal ohne Pina angefangen habe den Tänzern die Korrekturen weiterzugeben – von Pina erstmal. (()) Im Frühjahr 2000 kam die Diskussion, dass ich eigentlich in der nächsten Spielzeit wieder meine eigenen Arbeiten machen müsste. Und dann kam aber sehr schnell der Gedanke, dass es ja erstmal gut ist, wie wir arbeiten, wie ich auch helfen kann und bis Pina ihren Tänzerassistenten gefunden hat, den sie eigentlich im Sinn hatte, dass ich noch ein oder zwei Jahre mache, bis das stabil ist. So hat es sich verlängert. Dann habe ich einen festen Vertrag ab Sommer 2000 gemacht, ist auch meine Familie mit hergezogen nach Wuppertal für ein, zwei Jahre. Ja. Wie gesagt, seitdem...
Das war 2000, heute haben wir 2018, alle wohnen hier, wir sind einer mehr in der Familie. Hat sich alles anders ergeben, als wir dachten. Aber ja, jetzt sitzen wir hier.

Schauspielhaus Wuppertal Vígszínház Budapest Uraufführung von „Wiesenland“ von Pina Bausch mit Tanztheater Wuppertal im Schauspielhaus Wuppertal (Deutschland), 5. Mai 2000 Aufführung von „Wiesenland“ von Pina Bausch mit Tanztheater Wuppertal im Vígszínház Budapest (Ungarn), 26. Mai 2000

Ricardo Viviani:

Als die Recherchephase in Budapest war, ist dir etwas Besonderes eingefallen? Sodass du dir sagst: Das finde ich so besonders interessant. Anders gesagt, hast du deine eigenen Entdeckungen [gemacht]?

Robert Sturm:

Teilweise sicher, ja. Das haben wir gemeinsam gemacht. Da war die Anna Lakos vom Theaterinstitut verantwortlich, die hat / auch Thomas Erdos war noch beteiligt an der ganzen Vorbereitung und Überlegung. Und die Anna Lakos hat quasi vor Ort die Produktion geleitet, da waren wir zu dritt, mit der Kinga Keszthelyi und der Anna Lengyel hieß sie. Die waren beide Dramaturgen oder vielleicht damals noch Studenten oder gerade nach dem Studium, weiß ich nicht mehr genau. Wir waren zu dritt, wir haben immer zu dritt überlegt: Was könnte spannend sein. Und ich kann mich jetzt nicht mehr erinnern, was da vielleicht von mir war oder/ Ich habe auch noch spannende Sachen entdeckt in Budapest in den drei Wochen, die ich nicht kannte, glaube ich. Weil das halt noch Ideen von anderen Leuten waren. Es ging ja bis hin zur Pferderennbahn. Ich weiß nicht, also, verschiedene Sachen, und auf dem Land auch. Dörfer – das kannte ich ja gar nicht. Hausbesuche bei Gypsies zu Hause, bei Roma-Familien. (lacht)
Ricardo Viviani: Alles sehr spannend – Entdeckungen.
Robert Sturm: Für mich war natürlich das Spannendste nicht Ungarn zu entdecken nach 6 Jahren, sondern Pina und die Kompanie zu entdecken.

3

Ricardo Viviani:

Alle Produktionen haben verschiedene Personen, die mitarbeiten. Immer mit verschiedenen Bezeichnungen. Was hast du da zuerst gemacht? Ich glaube damals war "Mitarbeiter" dein Arbeitstitel.

Robert Sturm:

Ja, aber so hießen, glaube ich, fast alle. (lacht) Was natürlich auch / also man muss sich nicht vorstellen, ich bin jetzt gekommen, habe einen Vertrag unterschrieben und ab da war ich jetzt der, der die Proben macht oder die Korrekturen gibt. Die meisten Stücke kannte ich ja überhaupt nicht, mit Glück hatte ich eins gesehen, das gerade im Spielplan war, sondern das war natürlich ein Prozess. Erstmal so eher gucken, mithelfen, Pina mithelfen, mal das notieren was sie sagt, oder mal da, wenn Jan nicht da war, mal schnell eine Videoaufnahme mitmachen von der Bewegung, oder [so]. Es war eigentlich ein Einarbeiten. Natürlich bei dem Ungarnstück immer wieder auch mit Tänzern reden, erinnern: wo war das in Budapest. Oder wenn es was mit der ungarischen Sprache zu tun hat oder so. Da gab es natürlich immer ein paar Gespräche. Ansonsten als ich dann plötzlich permanent da war, bin ich halt in diese Sachen reingewachsen. Stück für Stück. Jedes das kam. Manche kamen dann öfter, also ich habe ja dann durchaus auch die Assistenz übernommen für Stücke, wo ich nicht original war. Also [Stücke], die nicht im meiner Zeit entstanden sind, sondern vorher. Ich erinnere mich besonders viel vielleicht [an] Masurca Fogo oder auch Fensterputzer waren so Stücke. Palermo Palermo war relativ häufig in der damaligen Zeit, wo ich mich dann relativ schnell relativ sicher gefühlt habe. Dass ich auch weiß, worüber ich erzähle, und nicht nur eben die Notiz weiter vorlese: Pina meint, du sollst.... (lacht). Sondern dass man auch ein bisschen versteht, was wirklich gemeint ist. Es war sehr spannend, es war auch sehr anders als meine vorherigen Theatererfahrungen. Ja, das war halt im permanenten Wandel. Also eigentlich war ich für die Stücke da, neben Pina zu sitzen, das war relativ schnell klar, spätesten ab der zweiten Spielzeit, ab Herbst 2000, war ich dann wirklich / saß ich eigentlich in jeder Probe, in jeder Aufführung neben Pina, habe die Notizen gemacht, die Korrekturen. Meistens war Pina dabei. Auch das hat sich über die Jahre dann ein bisschen verschoben. Also die letzten Jahre war es dann auch relativ normal, dass sie nicht zur Kritik kam. Dann hatte sich so eine Selbstständigkeit entwickelt. Was natürlich auch mit den Tänzern zu tun hatte, weil damals ja kaum Wechsel in der Kompanie waren. Das heißt, auch wenn ich mit den Tänzern geredet habe, wussten die, was ich meine. Wenn ich von Pina Anmerkungen hatte oder selber was gesehen habe oder so. Da wussten die immer, worum es geht, das war immer relativ leicht zu klären. Was vielleicht heute anders ist, wenn viele junge Tänzer sind oder es wirklich mit Beibringen zu tun hat und nicht nur mit an etwas erinnern oder irgendwas ein bisschen korrigieren. Ja, und das war dann relativ klar. Zu den Aufgaben kam dann so schrittweise dazu mit dem Weggang von Matthias Schmiegeld zum Beispiel, dass ich mich stärker mit um die Gastspielplanung gekümmert habe, das heißt / auch / ich habe sie nicht entwickelt, sondern es war natürlich Pina, meist in Zusammenarbeit mit Peter Pabst, die da über den Plänen saßen und über die Theater nachgedacht haben, Gastspiele, Wuppertal, welches Stück wäre schön in welchem Haus. Und dann war ich der Nächste, der dazu kam, bin rausgegangen, habe angefangen das umzusetzen, an den Ideen mit technischer Leitung, mit der Geschäftsführung, die dann neu war nach 2005 / also diese ganzen Wege zu gehen, wie kann man das machen. Ähnlich mit den Probenplänen: Als Urs Kaufmann weggegangen war, gab es da so bestimmte Vakuumsituationen, die ich mit gefüllt habe neben den ganzen Proben und Aufführungen, in denen ich weiterhin immer drinsaß. Das hat sich irgendwie permanent verschoben, dann auch teilweise zurückverschoben. Als Dirk Hesse kam, hat sich die Sache mit der Kommunikation mit den Gastspielpartnern und der Planung wieder ein bisschen dahin zurückbewegt, wo es früher mit Matthias Schmiegeld war, dass da die Geschäftsführung stärker aktiv war selber. Also es war immer spannend, das war nie / wurde nie langweilig, kam immer was dazu, oder immer was Neues oder anderes.

4

Ricardo Viviani:

Die Arbeit von Pina Bausch hat eine eigene Sprache, ein eigenes Bühnenevent, das sich entfaltet. Wie war diese Entdeckung für dich? Was hast du da neu nach und nach für dich klargemacht, gibt es eine – Offenbarung ist zu viel – aber Entdeckungen in der Sprache? In der theatralischen Sprache.

Robert Sturm:

Vielleicht was für mich das Spannendste war, mehr und mehr klar wurde, ist diese Arbeitsweise, die eigentlich davon ausgeht: alles ist möglich. Alles was ich bis dahin kannte, da gab es einen Text oder es gab eine dramaturgische Idee, oder... / man hat immer für etwas gesucht, auf etwas hingearbeitet und hier war das Gesamtbild überhaupt noch nicht vorgegeben. Es gab eigentlich kein fertiges Ziel in dem Sinne, sondern – das war auch spürbar – Pina hatte schon einen roten Faden, den sie aber oft gar nicht klar formuliert hat, um niemanden zu beeinflussen. Also sie hat mit ihren Fragen (()) ja immer etwas vorgegeben, womit sie was gesucht hat, ganz klar. Aber sie hat auch vermieden zu sehr zu erklären, was sie vielleicht sucht oder was das Interessante ist, um gleichzeitig offen zu sein für das, was da passiert. Sie konnte [es] von einem Augenblick zum anderen völlig ändern, also hat sie plötzlich auch was Anderes gesucht, weil da eine viel interessantere Spur anfing, in dem was passiert ist. Ich hatte zum Beispiel auch oft ihre nächsten Fragen einstecken, falls sie zu spät kommt zur Probe, damit ich schon die nächste Frage sagen kann. Bis sie kommt, können die Tänzer schon daran arbeiten und zeigen, wenn sie kommt. Und da habe ich ganz oft gemerkt, dass sie auch diese Liste der nächsten Fragen, die sie stellen will, permanent verändert hat anhand dessen, was in der Probe passiert ist. Das ging dann nicht am nächsten Tag da weiter, wie sie es gestern noch gedacht hat, die nächsten fünf Fragen oder so, sondern plötzlich standen da ganz andere, weil sie in der Probe irgendwas gesehen hat, was sie spannend fand und wo sie lieber erstmal diese Richtung wollte. (()) Man durfte auch nicht bewerten. Ich habe [es] mir immer verkniffen – ganz am Anfang ist mir das mal passiert, dass ich ihr gesagt habe, dass ist aber schön, oder? (lacht) Das war jetzt komisch. So was wollte sie gar nicht hören, war mir später völlig klar warum. Überhaupt keine Meinung oder Einfärben, weil sie das auch für sich selber versucht hat. Einfach die Sache so zu sehen und dann zu gucken, was passt wozu, und zusammen ergibt das ja vielleicht sowieso was ganz anderes, als die Sachen einzeln. Also diese Bewertung ist auch so gewachsen, wie das Stück gewachsen ist. Also es war eigentlich ein zu dem, was ich kannte, umgekehrter Prozess, dass man mit ganz kleinen Sachen anfängt und dann guckt, wo geht es hin, bis da so eine Einheit draus entstanden ist.

Kapitel 4.2

Zusammenarbeit
23:45

Ricardo Viviani:

Baut das nicht eine starke Erwartung oder eine starke Ungeduld [auf]?

Robert Sturm:

Große Neugier, glaube ich. Ja. Ich glaube, das braucht eine große Neugier und das war natürlich ganz stark zentriert in der Person Pina Bausch. Das ist ein Prinzip, das funktioniert für mich nur, wenn man da jemanden sitzen hat, der seine Gedanken, aber auch sein Gespür einbringt, weil sie ganz viel auch im Gespür hatte, wo es nicht um Theorie ging. Ich glaube sowieso, Theorie hat sie weniger interessiert, sondern dass das echt ist, was passiert, und dass das irgendwas bewegt. Dass es eine Bedeutung kriegt, die man nicht erklären muss, keine Message oder so, aber das es irgendwas in den Menschen bewegt. Wenn es in jedem was Anderes bewegt, war es auch gut. Ich glaube manchmal, am frohesten war sie, wenn da 800 Menschen saßen, und jeder hat eigentlich ein anderes Stück gesehen. Wenn man danach mit denen geredet hat. (())
Das war natürlich für mich komplett neu, dass eigentlich in jedem Sinne ein weißes Blatt da war. Nicht nur auf Papier, sondern eigentlich auch im Kopf, für alle. Und man sich immer nur mit dem beschäftigt hat, was gerade an Frage / und keine Bögen. Sie wollte ja auch eigentlich keine ausgearbeiteten / mehrere Szenen aneinander oder längere Szenen. Ihr war am liebsten, wenn es möglichst klein und möglichst kurz [war] und möglichst viel Spielraum zum Kombinieren ließ, zum Spüren, wo gehört das hin.

Ricardo Viviani:

Und dann praktisch: Die Kompanie ist nicht sehr, sehr groß, aber trotzdem sind viele Tänzer da, viele Ideen, viele Sachen, die als Antworten oder Material für diese Fragen kommen. Wie konnte man das alles managen, organisieren? Wie war der Prozess?

Robert Sturm:

Pina hatte da ihr festes System. Das würden heute die meisten Menschen im Computer machen, glaube ich. Sie hat das auf Papier gemacht. Sie hat wirklich für jede Improvisation, die hat sie sich notiert, und sie hatte dann auch ein System mit mehreren Kreuzen, weniger [Kreuzen]: Wie beeindruckt sie das oder wie wichtig sie das fand oder wo sie das hintut. Und viele Sachen wollte sie gar nicht wiedersehen, also hat sie nicht wieder gefragt, sagen wir mal so. Weil ich glaube, sie hat ... sie hat erstmal alles gesammelt, sie hat die Fragen gestellt und die Antworten gesammelt. Die waren ja manchmal Bewegungen, manchmal hat sie auch gezielt Bewegungsfragen gestellt, die wurden dann auf Video aufgenommen. Aber vieles am Anfang wurde auch nicht gefilmt. Das meiste eigentlich nicht. Sie hat mich sogar ausdrücklich darauf hingewiesen, es wird nicht alles gefilmt, weil ihr wichtig war, dass die Tänzer das anders reproduzieren können, was sie gemacht haben. Und sie hat gesagt, sie möchte entscheiden, was auf Video kommt. Also das war dann manchmal irgendwas, wo sie dachte, das nehmen wir mal lieber auf, dann wurde das aufgenommen. Aber ansonsten hat sie, als ich angefangen habe die ersten Jahre, bewusst vermieden, alles auf Video aufzunehmen, weil sie auch nicht wollte, dass die Tänzer dann nur Video gucken und sich selber vom Video reproduzieren. Auch da war eigentlich spannender, dass sie das nochmal machen ohne kopieren, mit der Idee, die sie im Kopf haben von dem, was sie selber gemacht haben. Fand ich auch ziemlich spannend und folgerichtig damals. So, das hat sich später verschoben. [Ich] weiß es nicht, ob das mehr mit den Tänzern zu tun hatte, aber dann so die letzten 4 Jahre, 3, 5 Jahre, ich kann [es] nicht genau sagen, wurde dann schon alles aufgenommen. Also das hat sich verändert in der Arbeit und dann wurde mehr Video geguckt: Wie war das damals, machen wir nochmal. Aber in der Anfangsphase hatte sie eine ganz andere Haltung dazu. Die sie mir auch klar erklärt hat, weil ich nicht filmen sollte.

5

Ricardo Viviani:

Da kommt dann ein anderer Titel zu deiner Tätigkeit: Vom Mitarbeiter [wurdest] Du dann [zur] Probenleitung für bestimmte Stücke.

Robert Sturm:

Ja, wobei sie ja bis 2009 eigentlich immer da war, und dass ich die Probenleitung mache, ich glaube, auch da hatte sie ein bisschen eine andere Vorstellung von dem Begriff, was das meint. Weil / sie hatte mich, glaube ich, auch über die Mitarbeiter gesetzt, weil ich die Probenleitung und künstlerische Assistenz [war], es hat variiert. Aber das war nicht nur, dass ich selber manchmal Probenleiter [war], was sich meistens auf / wenn, dann auf Tourneen bezogen hat, wo sie nicht da war zum Beispiel. Da hatte ich dann die Aufgabe, das Stück auf die Bühne zu bringen. Wobei ja an dem Stück nicht viel zu arbeiten war, (()) das haben [sie] vorher in der Lichtburg gemacht, sondern eher die Entscheidung, was muss man jetzt wegen der Bühne, Auf- und Abgängen und natürlich weiter die Korrekturen machen, auch wenn sie nicht da ist. Damit war ich auch selten alleine oder wenn, konnte ich immer sagen, Dominique oder Julie oder ... guck mal bitte mit, da ist irgendwas. Ich war für sie halt verantwortlich für die Gesamtprozesse, also sie wollte von mir auch dann oft wissen, wie war eine Probe, die ich gar nicht gemacht habe, sondern jemand anders. Ich war für sie eher die Klammer, im Zusammenhang mit der Probenplanung, aber eben auch einen Überblick zu haben, wo stehen die Sachen, wenn sie persönlich nicht dabei war. Was am Anfang sehr selten war, also in meinem Anfang, da war sie so gut wie immer da, aber über die Jahre kam schon immer öfter vor, dass sie mal eine Tournee ausgelassen hat. Es war ihr zu weit oder sie hatte was Anderes, weil sie wegen [des] Kyotopreises / dann konnte sie mal hier nicht sein, weil sie in Japan war. Dann konnte sie in Hong Kong nicht sein, weil sie wegen [des] Kyotopreises in Kalifornien war, also solche Sachen gab's. Da war dann klar, ich habe die Probenleitung, aber es war jetzt eigentlich nie für das Stück formuliert, aber es war so eine generelle Geschichte.

Kapitel 5.2

Tanz-Fachleute
31:13

Ricardo Viviani:

Fachlich für den Tanz, Schritte und so: Wurden bestimmte Leute ausgesucht für bestimmte Stücke? Wie ist das entstanden?

Robert Sturm:

Bis ich kam, war ja immer (()) Marion Cito, (()) Hans Pop war ja lange da. Der war damals schon eine Weile weg. Und als ich dann da war, das war ja ganz klar, dass ich mich nicht / also wenn Tanz umstudiert werden muss, dann fiel das außerhalb meiner Kompetenz. Und dann, wenn Pina nicht selber da war, wurde gesagt, wer sich darum kümmert. Und da hatte auch ich auf Tournee, also wenn ich dann zwar geguckt habe, wie ist das Stück auf der Bühne und habe die Probe quasi durchgeführt mit den Tänzern, aber wenn an einem Tanz zu arbeiten war, dann habe ich auch jemanden gebeten, kannst du gucken. Und was dann als festes Bestandteil eingeführt wurde, das war – da war ich so 2 Jahre da oder so – da kam Pina auf die Idee, sie möchte weniger reisen. Also dass noch mehr diese Situationen auftreten, die bis dahin die Ausnahme waren. Sie sind's auch geblieben, weil sie eigentlich danach auch nicht weniger gereist ist. Aber sie hatte die Idee. Da haben wir natürlich darüber gesprochen, dass das aber komplizierter ist, weil wenn sie fast immer dabei ist, dann kann ich natürlich auf einer Tournee die paar Proben machen und das Stück ordentlich auf die Bühne bringen, aber wenn das regelmäßiger passiert, dann ist natürlich der Faktor, dass mir Tanz fehlt als Profession ein echtes Problem. Und wie wir die Stücke absichern können, dann, wenn sie häufiger nicht dabei wäre. Daraus kam der Gedanke, dass ein Tänzer der Kompanie auch assistiert, zumindest bei den neu entstehenden Stücken. Der erste war Daphnis, der hat auch noch die meisten Stücke gemacht. Also ich war bei 10 Stücken Originalassistent und 5 davon mit Daphnis und die anderen waren aufgeteilt auf Helena, Barbara und Thusnelda. Und bei zweien war kein aktueller Assistent da – außer Marion Cito, die immer irgendwie mitlief, aber eigentlich, seit ich da war, ganz schnell weniger Assistenz gemacht hat. Sie war Kostüm und andere Bereiche, sie hat auch – eher in Ausnahmen – noch Kritik geschrieben, und so. Da entstand dann dieses Prinzip, dass eigentlich für jedes neue Stück, seit Kinder, immer jemand anwesend war, nicht nur ich, sondern auch ein Tänzer, der da assistiert hat, was sich eigentlich dann, als Pina plötzlich gegangen war, als Glücksfall herausgestellt hat in dem Ganzen, weil wir irgendwie [auf] eine Art sehr gut präpariert waren, die Stücke eben erstmal zu betreuen. Und ohne zu viel an Qualität zu verlieren. Das war aber gar nicht so geplant, das war nicht für den Fall geplant, dass Pina nicht da ist, das war eigentlich alles, wenn sie mal nicht da ist, zwischendurch. Das war eher der Gedanke.

Ricardo Viviani:

Da haben wir auch einen anderen Titel entdeckt, den du auch gehabt hast: Assistent von Pina Bausch. Da wurde auch dieses Konzept angefangen?

Robert Sturm:

Es ist ganz schwer die Titel konkret zuzuordnen, selbst für mich, weil die Änderungen der Titel oft mit anderen Personen zu tun hatten. Mein Vorschlag war eigentlich am Anfang, nenn mich doch Regieassistent, dann ist gut, weil das ist, was ich mache. Dann kann auch noch jemand choreografischer Assistent heißen. (lacht) Und da sie aber gesagt, ne, das geht ja nicht, weil was ich mache, ist ja keine Regie. Also, was Pina macht. Deswegen konnte ich nicht Regieassistent sein, weil das für mich am organischsten wäre, da komme ich her, jetzt mache ich es halt für Pina, lässt auch Spielraum, dass der Tanzbereich von jemand anderem noch /, aber das wollte sie nicht, deswegen war's auch Mitarbeit wie alle anderen. Und das war Assistent / also sie wollte mich ja sowieso auch für die ganze Arbeit. Ich war mit ihr auch zwischen den Proben im Büro meistens. Probenplangeschichten, Besetzungsgeschichten, wo es sonst nur wechselnde Besetzungen gab, ich war eigentlich dafür dann permanent da, um die ganzen Informationen auch durchgängig zu sammeln, auch später mitzuüberlegen. (()) Das stand in meinem Vertrag: Dass ich Mitarbeiter der künstlerischen Leitung bin, nicht nur Assistent, sondern auch Mitarbeiter der Leitung, weil ich auch ihr da zur Hand gegangen bin für die Leitung der Kompanie und [bei] allem, was dranhängt. Wo ich mithelfen konnte.

6

Ricardo Viviani:

Du hast dann die Repertoire[-Entscheidungen] begleitet und erlebt: Stücke, die wiederaufgenommen wurden, neu einstudiert, um das gesamte Repertoire lebendig zu halten. Kannst du ein bisschen sagen, was du da erlebt hast, an Gedanken, Strategien oder wie [wurde entschieden]: vom Bauch aus oder abhängig von Gastspielen, oder wie?

Robert Sturm:

Zum einen denke ich, dass die Stücke sowieso die Lebendigkeit immer gebraucht haben und eigentlich immer hatten. Das ist ein Thema, was mich jetzt in den letzten Jahren viel beschäftigt: Wie kann man die übertragen an Tänzer, die nicht IHRE Rolle tanzen. Irgendwie hat sich die Lebendigkeit für mich immer vermittelt, weil es ja immer die Tänzer waren, es waren immer ihre Sachen. In den Jahren, wo ich dabei war, kann man ja sagen, die Stücke waren von Pina, aber das Material war immer von den Tänzern. Und dadurch war es für mich immer eine unheimlich spannende Sache, das zu sehen, weil es sehr gefüllt war, es war nicht gespielt im herkömmlichen Sinne. Egal wie gut ein Schauspieler spielt, es ist halt gespielt – im Normalfall. Am besten, wenn es weniger gespielt ist, aber trotzdem: es hat immer eine Ebene, dass es hergestellt ist. Bei den Stücken von Pina sind die einzelnen Sachen, aus denen das ist, die sind sehr persönlich, die sind ja angefüllt meist mit Erinnerungen. Das ergibt natürlich (()) zum einen eine andere Lebendigkeit auf der Bühne, eine andere Wahrhaftigkeit, wenn [es] die Leute sind, und einen anderen Anspruch, wenn das jemand übernehmen muss. Nur kopieren funktioniert bei den Sachen nicht. Es ist ein ganz komplexer Prozess: Bekommt da jemand das Richtige hin, selbst wenn es vielleicht anders ist als das Original, aber es muss dasselbe rüberbringen. Das macht es spannend. Eine andere Sache, die Pina auch bewusst gemacht hat, ist, dass die Stücke meistens mit Abstand gespielt wurden. Sodass man den Stücken selber neu begegnet, auch die Tänzer und auch Pina selber. Ich hatte immer den Eindruck / sie hat viel zum Beispiel Video mitlaufen lassen in der Lichtburg, wenn wir Wiederaufnahmeproben gemacht haben. Und manchmal hat sie gesagt: aber da stehst du da. Das wirklich konkret (()). Aber was ich für einen Eindruck hatte, da haben wir auch einmal drüber gesprochen, sie hat das auch viel genommen, um sich selber nur zu erinnern, wie man einen Spickzettel nimmt, dass sie da sieht. Und ich glaube, das hat ihr geholfen zu erinnern, was sie damals im Kopf hatte, was das Wichtige war. Ich teile nicht die Meinung, dass sie das Video immer geguckt hat, um jetzt eins zu eins dasselbe [zu erzeugen], sondern das war für sie eher eine Erinnerungsstütze, außer ein paar räumliche Sachen, die wurden konkret. Aber ansonsten war es für sie eine Erinnerung an bestimmte Emotionen – [um sie] wieder zu erinnern, die [man] so pur, wenn man in der Lichtburg ohne Bühnenbild [probt], sicherlich ganz anders schwieriger wieder hinbekommt. Die kommen dann erst im Nachhinein, so viel Proben hat man meistens gar nicht. Und da hat natürlich der Eindruck von meistens einer älteren Aufnahme, die sie bewusst benutzt hat, nicht nur damit man am Original [arbeitet], sondern ich glaube schon, dass (()) es so für sie war, dass sie da nur einmal kurz hinguckt und dann fallen ihr wieder Sachen ein zu dem, was da gerade [passiert]. Das hat ihr viel geholfen, auch in den wenigen Proben / wobei die Tänzer ja selber auch erinnert haben. Dadurch dass es ihre Sachen waren mehrheitlich, ist das natürlich relativ nah zu erinnern. Es ist für die Leute nicht sehr äußerlich, es ist eher ein innerer Prozess.

Ricardo Viviani:

Ich versuche zu sehen, ob irgendein Stück, das sehr lang vorher nicht gespielt wurde, in deiner Zeit plötzlich wieder da war. Ich glaube Two Cigarettes [in the Dark]? // Ja (())

Robert Sturm:

Da bin ich dann für mich zurück auf Anfang. Wo ich wirklich / Da wurden ja, wenn jemand geholfen hat, immer Tänzer [eingesetzt], die im Stück waren, die das Stück kannten nach so langer Zeit. Das war auch bei Keuschheitslegende so, kann ich erinnern, wo ich zwar auch Notizen gemacht habe, weiß ich noch, die gibt's auch noch irgendwo. Beziehungsweise ich habe die weitergegeben, als das letzte Mal wieder [geprobt wurde] – so was Platzierungen angeht und so was. Ich weiß, ich war da, aber ich habe nicht inhaltlich / ich habe nicht mit erinnert. Und da habe ich mich auch nicht / Was bei meinem Job vielleicht anders war als bei den Anderen, dass ich permanent Assistenz gemacht habe. Ich war eigentlich jeden Tag für jedes Stück [da], und so wie die Stücke gewechselt haben... Das war nicht so, wie das jetzt viel ist, dass wir Probenleitungen für einzelne Stück haben und die bereiten sich intensiv auf das Stück vor. Zum einen war bei mir meistens Pina da oder später kannte ich das Stück, weil ich selber bei der Entstehung dabei war, dann war das auch einfach. Aber es war nie so, dass ich mich wochenlang mit Videos befasst habe und die Vorarbeit [gemacht habe]. Sondern da war Pina, die sowieso erinnert hat, und ich habe so die tägliche Arbeit mitgemacht. Trotzdem die Aufstellung vom letzten Mal gesagt oder die neuen geschrieben – bei diesen Stücken, die lange nicht waren, aber inhaltlich [habe ich] eigentlich auch erst da das Stück kennengelernt. Klar, aus der Routine konnte ich trotzdem bei den Prozessen helfen, Pina unterstützen, aber nicht künstlerisch, inhaltlich habe ich dann überhaupt nicht geguckt, wie ist die Qualität der Szenen oder so. Das konnte ich teilweise tatsächlich in den ersten Proben überhaupt nicht beurteilen, weil ich keinen Vergleich hatte. Angeguckt auf Video habe ich mir das Stück schon vorher, aber das reicht ja nicht, um wirklich tief genug reinzukommen, um da sprachfähig zu sein oder eigenständig zu wissen, was jetzt das Nächste ist. Also das war noch immer wieder / da habe ich mich sehr gefreut, wenn Stücke kamen, die ich noch nicht kannte.
Ricardo Viviani: Eine neue Entdeckung auch. // Ja
Robert Sturm: Die Stücke an sich, und auch die Prozesse waren dann wieder spannend. Weil es für alle dann meist ein Abenteuer war ein bisschen.

Ricardo Viviani:

Bevor wir weitergehen, noch ein bisschen in dieser Periode: der organisatorische Theaterbetrieb funktioniert beim Tanztheater ganz anders als man es von anderen Theatern kennt?

Robert Sturm:

Einfach dadurch, dass die Konzentration auf die Aufführungen 100% ist oder war. Eigentlich handhaben wir das immer noch so: dass auf die Aufführung hingearbeitet wird mit Proben und in der Zeit passiert eigentlich nichts anderes. Ich rede jetzt von der Zeit mit Pina, aber auch danach die Jahre. Da wurde wirklich an Anführungstagen oder die letzten Tage, bevor es auf die Bühne ging, wurde immer nur das Stück gearbeitet, das grade dran war. Das ist natürlich sehr ungewöhnlich, was aber sicherlich auch Teil der außergewöhnlichen Qualität auf der Bühne ist, dass man sich nicht nur einarbeitet, sondern auch wieder einlebt in das Stück. Während an anderen Theatern durchaus [am] Vormittag probiert wird und abends ein ganz anderes Stück gespielt wird, also die Reproduzierbarkeit auf einer ganz anderen Ebene läuft, was höhere Risiken für Qualität birgt, aber, wenn es gut gemacht ist, funktioniert's. Bei Pina war absolut die Konzentration nur auf das. Sie hat immer versucht zu vermeiden, wenn man in der Lichtburg probiert hat, dass man dazwischen ein anderes Stück macht. Es [wurde] immer versucht, das zusammen zu legen. Manchmal ließ es sich nicht vermeiden, dass man vor einer Tournee probiert, wo man aber zwei verschiedene Stücke spielt. Dann musste zwischen Lichtburg ein Stück und Bühne [einem] anderem, musste ein anderes Stück sein. Aber es war immer der Versuch, dass die Tänzer tatsächlich in dem Stück bleiben. [Es] war auch eine häufige Kritik, auch von Pina, wenn man wieder von einer Tournee kam oder die Aufführungen beendet waren, [und] man hat das nächste Stück probiert, dass Tänzer sehr viel mitgebracht haben aus dem Stück davor. Dann der Hinweis: Das ist jetzt nicht mehr Fensterputzer (lacht). Habe ich sehr häufig gehört und auch gesehen. Und das ändert sich dann auch wieder, aber das braucht tatsächlich Zeit. Ich glaube, durch diese sehr, sehr / Es ist ja so total, die Darstellung. Es ist nie einfach gespielt. Man muss sich innerlich wieder drauf einstellen, nicht nur physisch, nicht nur was das Technische angeht.

7

Ricardo Viviani:

Ein Aspekt ist der Probenprozess von Café Müller. Hast du von vornherein direkt... Es wurde schon auch viel gespielt?

Robert Sturm:

Ja, es wurde viel gespielt. Ich saß auch ganz viel im Zuschauerraum. Aber Café Müller ist schon ein Sonderfall gewesen für mich. Es gab eigentlich nicht das Prinzip, von draußen wird geguckt und dann wird korrigiert, sondern Pina war mit auf der Bühne. Ich fand das immer faszinierend, ich habe bestimmt die ersten Serien eigentlich nur geguckt und mit Licht geguckt und so was. In dem Sinne habe ich das nie als Kritik empfunden, wie wir (()) die Korrekturen bei anderen Stücken machen, wo geguckt wurde und dann wird besprochen: das sah komisch [aus], das war nicht richtig, das noch ein bisschen anders ... Sondern in Café Müller gab es natürlich die Korrekturen, aber die waren immer – weil Pina auch mit auf der Bühne war, trotz geschlossener Augen, hatte sie immer einiges zu sagen – aber das war immer wie ein Gespräch zwischen denen, die auf der Bühne waren. Das hat sich erst ein bisschen geändert, als Besetzungen wechselten oder [sich] teilten, wo dann auch Malou mal mitgeguckt hat oder mit einzelnen Leuten gearbeitet hat und dann noch Kommentare / Ansonsten hatte ich das immer empfunden, was ich faszinierend fand, [als] so einen kleinen Kosmos. Ich habe durchaus auch, wenn mir was aufgefallen ist, mit Tänzern geredet – nie mit Pina, was ihre Rolle angeht, weil sie sowieso ihr eigenes Gespür da voll hatte. Ich habe manchmal was gesagt zu anderen, aber eigentlich minimal. Da hatte ich auch das Gefühl, dass das irgendwie so gehört, das regeln die unter sich, das war für mich ein bisschen das Gefühl. Die, die gerade gemacht haben. Ich rede jetzt von den Jahren mit Pina.

Robert Sturm:

Eine Ausnahme gab es. Das war 2006 in London, als Pina krank wurde. [Sie] war ein paar Tage zur Untersuchung in der Klinik und kam dann wieder. Da hat Héléna Pikon die Rolle übernommen in London im Sadler’s Wells, kurzfristig, die lange, lange gelernt hat. Ich habe erlebt – kleiner Sprung zurück bevor wir zu 2006 kommen – 1994 war Nelken in Budapest, in der Zeit als ich dort gearbeitet habe. Ich habe es nicht geschafft, wegen eigener Vorstellungen abends in die Aufführung zu gehen, und hatte über Mitarbeiter geklärt, dass ich doch mal eine Café Müller-Probe gucken darf. Ganz leise, ganz hinten. Und dann saß ich mit meiner jetzigen Frau, damals noch nicht Frau, saßen wir ganz hinten unterm Rang im Halbdunkel. Pina hat auf der Bühne probiert und Héléna im Zuschauerraum spiegelverkehrt komplett das Ganze mitgetanzt. Das habe ich mir so gemerkt und ich glaube, Héléna hat das nie getanzt dann. In meiner Zeit bestimmt nicht, ich glaube auch, dass vorher keine Aufführung war. Ich glaube, Pina hat mir auch mal gesagt, sie hat das nur, als sie mit Salomon schwanger war, mal nicht getanzt. Und seitdem hatte sie es nicht von draußen gesehen und da kam 2006 in London, dass Pina wiederkam, aber gesagt hat, ne, sie möchte jetzt nicht mehr auf die Bühne für diese Serie, und plötzlich saß ich auch bei Café Müller neben ihr im Zuschauerraum. Das war hochspannend, weil sie das Stück da seit 25 Jahren das erste Mal gesehen hat. Sie hat eine sehr lange/ da habe ich nichts geschrieben. Sie hat nur geguckt, geguckt, manchmal irgendwelche kleinen Kommentare gesagt, und am nächsten Tag eine richtige Kritik zu Café Müller gemacht, die dauerte bestimmt ein, zwei Stunden, was ich vorher nie erlebt habe, weil es immer so eher persönliche Gespräche waren, was unter Kritik lief. Das war faszinierend, weil sie da Sachen zu dem Stück gesagt hat, die sie scheinbar sich doch ganz anders vorgestellt hat mit ihren geschlossenen Augen auf der Bühne. Sie hat zum Beispiel fast komplett das Licht geändert. Nicht weil es falsch geworden war, sondern sie hat gesagt, ne das stimmt nicht mehr. Also sie sagte, ja, ne, ne, kann sein, das war so. Aber wenn sie jetzt das Stück guckt, stimmt's nicht. Dann hat sie wieder ganz dunkel gemacht, was wohl früher auch mal so war. Und da heller und irgendwelche Stimmungen, die lange laufen, verdoppelt oder auf die halbe Zeit verkürzt. Sie hat wirklich nochmal [beim] Licht gesagt, das stimmt ja nicht, weil das ja so aussieht, als wäre es eins, aber es ist gar nicht eins, das sind ganz verschiedene /. Sie hat plötzlich angefangen / da haben wir in London lange dran gearbeitet. Nochmal neu mit dem Licht, nachdem sie es gesehen hatte. Und seitdem hat Café Müller, seit 2006, eine andere Beleuchtung als davor, weil es auch nicht deckungsgleich mit dem war, was Ende der 70er war. Sondern das hat sie aus ihrem aktuellen Empfinden 2006, gemischt mit Erinnerungen an 78, (()) eben nochmal neu gestaltet. Danach hat sie es immer wieder getanzt, bis zuletzt. Das war eine sehr spannende Erfahrung.

Budapest London Sadler's Wells London Vígszínház Budapest Héléna Pikon Pina Bausch Café Müller Nelken Aufführung von „Café Müller“ von Pina Bausch mit Tanztheater Wuppertal im Sadler's Wells London (England), 13. Februar 2008 Aufführung von „Nelken“ von Pina Bausch mit Tanztheater Wuppertal im Vígszínház Budapest (Ungarn), 18. März 1995

Robert Sturm:

Interessant war auch in Japan, bei Café Müller/Sacre im Nationaltheater, da wurde ja Café Müller übertragen im Fernsehen. Und dafür haben die immer Probeaufnahmen gemacht. Und Pina und ich, wir haben immer nach Café Müller dann gesessen und haben die Aufnahme von dem Abend angeguckt. Und da war sie auch sehr überrascht, auch über sich selber, hat sie auch gesagt: "Ach, das ist so, wenn ich das..." Es war auch für sie eine völlig überraschende Geschichte, auch sich selber plötzlich zu sehen.
Ich habe das leider nicht alles notiert, man hätte einen kleinen Recorder mitlaufen lassen können. Das wäre spannend gewesen. Ich habe leider sowieso meine ganzen Notizen immer weggeschmissen, auch die Korrekturen, die ich geschrieben habe von ihr, hätte man geahnt, das wäre alles schönes Material gewesen zu den Stücken. Jetzt kann man sich nur erinnern. Ich glaube, andere haben mehr geschrieben, ich habe das alles nur als Tagesgeschäft gesehen. (lacht) Was jetzt schade ist im Nachhinein, weil ich bestimmt auch nicht alles erinnere.

Tokio Japan National Theatre of Japan Tokio Pina Bausch Café Müller Aufführung von „Café Müller“ von Pina Bausch mit Tanztheater Wuppertal im National Theatre of Japan Tokio (Japan), 6. April 2006

Kapitel 7.4

Lichtänderungen
54:46

Ricardo Viviani:

Das heißt, dass heute die Beleuchtung die Beleuchtung von 2006 ist.

Robert Sturm:

Dazu ist vielleicht mal interessant, mit Matthias Burkert zu reden, der sich viel ums Licht gekümmert hat, der das sehr gut erinnert im Vergleich über die vielen Jahre, weil er ja fast von Anfang an bei Café Müller war. Vielleicht ist er ein Jahr später gekommen, aber er hat ganz viele Café Müller /. Er kann zum Licht sicher noch was sagen. Das war 2006 wirklich so eine Zäsur, wo ich danach durchaus Diskussionen hatte mit ehemaligen Café Müller-Tänzern, die sagten, aber das stimmt nicht. Doch, so will es jetzt Pina haben und ich finde, wir sollten dann bei der 2006er Version bleiben, weil das das war, was sie zuletzt richtig fand. Das kannten Tänzer, die eben nur bis Mitte 90er getanzt haben, die kannten das halt nicht. [Da] kam dann immer ganz überrascht: ‘Ach da ist dunkel?’

8

Ricardo Viviani:

Dann [warst du] künstlerischer Leiter zusammen mit Dominique Mercy. Wie seid ihr da reingesprungen?

Robert Sturm:

Ja, [das] war überraschend. Hatten wir nie gedacht. Pinas Tod hat uns komplett überrascht. Dann war sehr schnell klar, dass erstmal spontan Dominique natürlich mit rein muss, der nicht vorgesehen war, mit nach Moskau zu fahren für Todsünde, dass er da erst mal mitkommt, dass wir jetzt erstmal schauen. Ich persönlich habe einfach weiter gemacht, was ich vorher gemacht habe. Ich saß 10 Jahre neben Pina bei vielen Sachen, die sie gemacht hat, wie sie ihre Entscheidungen getroffen hat. [Ich] habe alles versucht, so gut wie möglich weiter laufen zu lassen, weiter an den Planungen gearbeitet. Aber eigentlich, glaube ich, hatte keiner von uns die Idee, die Leitung zu übernehmen, sondern die Frage kam von der Stadt aus, dass sie hören, wir machen das eigentlich gerade so praktisch, was wir gar nicht als künstlerische Leitung verstanden hatten, sondern wir haben nur gemacht, was wir dachten, was irgendwie / einfach um eine Kontinuität zu sichern. Ob wir das nicht auch amtlich machen würden? Auch die Frage hat uns, glaube ich, [hat uns] beide überrascht, mich auf jeden Fall. Dann haben wir mit der Kompanie Gespräche gehabt und haben auch gesagt, nur wenn niemand dagegen ist, sonst machen wir es nicht. Wenn irgend jemand sagt, er will das nicht, weil es sowieso schwierig ist vom Kollegen dieser Schritt zum/ Ja, und dann wurde beschlossen, dass wir es erstmal so versuchen. Das war natürlich eine ganz schwierige Zeit. Kein Vergleich mit heute oder vor 6 Jahren, (()) weil wirklich alles auf Pina ausgerichtet war, jeder auch seinen persönlichen Bezug zu Pina hatte. Es gab ganz viel Suche, was ist jetzt der Platz, wer ist jetzt wofür verantwortlich. Es gab ganz viel Verantwortungsbewusstsein, was sehr gut war auf der Bühne, was aber in der täglichen Arbeit, im Prozess von Nachdenken, Entscheiden es sehr kompliziert gemacht hat, weil es oft so eine breite Diskussionsbasis kriegte. Wir konnten uns oft Sachen überlegen. Sobald man die mitgeteilt hat, kamen natürlich zehn andere Ansichten. Alles wurde immer infrage gestellt, was sicher sein Gutes hatte, auch seine Logik in dieser Kompanie, weil es nun mal eine besondere Kompanie ist, wo außerhalb von Pina zwar Aufgaben verteilt waren, aber nicht irgendwie klare Hierarchien. [Ich] hatte auch bei mir nie das Gefühl, wenn ich auf Tournee mal ohne Pina die Proben gemacht habe, war das nie wie Pina. Es war nicht in dem Sinne, dass ich jetzt ein Chef wäre. Es waren nur Tätigkeiten, die logisch waren für die Qualität oder für den Arbeitsverlauf. Aber es war niemand Stellvertreter. Zumindest nicht seit Hans Pop, er war, glaube ich, auch Stellvertreter. Es war niemand Stellvertreter und es gab niemanden, der Pina ersetzen konnte. Dominique war Gründungsmitglied und Tänzer und [brachte] einen ganz reichen Erinnerungsschatz mit und natürlich eine große künstlerische Qualität, aber keine Leitungserfahrung in dem Sinn. Ich war sicher mehr in Strukturen, wo ich weiß, wie diese funktionieren müssten.

Moskau Russland Mossowjet Theater Moskau Dominique Mercy Hans Pop Pina Bausch Die sieben Todsünden Aufführung von „Die sieben Todsünden“ von Pina Bausch mit Tanztheater Wuppertal im Mossowjet Theater Moskau (Russland), 15. Juli 2009

Robert Sturm:

So, das haben wir versucht zusammenzubringen. Es war mit sehr viel Respekt, auch wir hatten das Gefühl, wir sind nicht in einer klassischen Kompanie, wo es Gruppe und hmhm (zeigt links, Mitte, rechts) [gibt]/: so, jetzt machen wir das. Es war auch wichtig, als Pina plötzlich weg war, dass jeder sich beteiligt fühlt. Es hat es nur unheimlich kompliziert gemacht. Wir haben auch ganz Vieles nicht erreicht, was wir eigentlich erreichen wollten. Ich dachte, zum Beispiel, dass wir Maximum 3 Jahre nach Pinas Tod ein neues Stück machen. Wir haben es sogar mal angekündigt. 2012 ist es ja durch die Presse gegangen, dass wir für 2013 ein neues Stück nun machen. Was wir dann auch wieder abgesagt haben, weil es einfach zu früh war. Es gab zu viel Skepsis, da war die Offenheit noch nicht da. Da waren viele, was ich auch verstehen kann: Wer soll nach Pina kommen? Große Frage. Braucht man überhaupt einen anderen, weil wir die vielen Stücke von Pina haben. Es war noch so viel unklar, dass wir dann irgendwann gesagt haben, das geht noch nicht. Man kann keinen dahin setzen, der nicht offen empfangen wird, und alle wollen jetzt mit dem ein neues Stück machen, das macht einfach keinen Sinn. Da war die Situation eben lange, lange unklar. Es gab nur den Versuch 2015, der eher als Arbeitsprozess gedacht war, nicht als Stücke für das Repertoire. Das war eine Vorstufe, um auszuprobieren, wie sind Arbeitsprozesse für den Wunsch, neue Stücke zu machen, für den dann eigentlich eine Intendanz gesucht wurde, eine künstlerische Leitung.
Aber das war jetzt weit weg von unserer Zeit. Bei uns war ganz viel .. eigentlich Suche und ein bisschen Feuerlöschen, weil da ganz viel Ratlosigkeit ohne Pina plötzlich war.

1:02:00

Ricardo Viviani:

Aber trotzdem [habt Ihr] einige sehr wichtige Projekte gemacht. Erstmal der Film mit Wim Wenders.

Robert Sturm:

Ja, der aber auch noch mit Pina geplant war. Der hat sich ganz anders entwickelt, weil das eigentlich ein Film mit Pina [werden] sollte, die zusammen mit Wim Wenders hinter der Kamera steht, aber auch vor der Kamera: über Pinas Arbeit mit der Kompanie eigentlich, auf Tourneen. Das war eigentlich die Idee. Dann war Pina plötzlich weg und er war erstmal abgesagt, bis wir ziemlich gleichzeitig den Gedanken hatten: Film über Pina – wann, wenn nicht jetzt. Alles war finanziert, war geplant, wir hatten die Stücke im Spielplan, also zumindest fast alle, die dann im Film waren, waren schon klar gedacht und angesetzt. Dann kam der Gedanke, man macht halt einen Film für Pina, nicht über Pina. Es ist halt mehr eine Hommage geworden als jetzt eine Dokumentation im klassischen Sinne. Das war ein unheimlich wichtiger Prozess, da war Wim Wenders sehr wichtig für die Kompanie, weil er auch eine Figur war, die erstmal Zusammenhalt geschaffen hat. Über die Beschäftigung mit Pina von jedem aus sich heraus. Das war eben letztlich improvisiert. Eigentlich haben die Dreharbeiten schon angefangen, wir hatten die Tests noch mit Pina, vor dem Sommer, die ersten Testaufnahmen. Dann haben wir gesagt, doch jetzt machen wir es. Da kamen bald nach dem Sommer die ersten Stücke. Da war Pina gerade mal 3, 4 Monate nicht da. Eigentlich war work in progress zu entwickeln, was kann das jetzt für ein Film werden. Da hat Wim sehr intensiv auch Pinas Sachen aufgegriffen, dass die Tänzer was äußern oder was beisteuern, was sie gerne Pina hinterherschicken würden. Dann kamen ja so verschiedene Ideen, die aber mit dem ursprünglichen Konzept nichts mehr zu tun hatten. Aber der Vorgang an sich war sehr wichtig. Die Arbeit an dem Film und die Arbeit mit Wim, die war in der Spielzeit sehr, sehr wichtig. Weniger danach, (()) da hat keiner dran gedacht, dass der Film so einen Weg geht. Das war eher erstmal für uns wichtig und für Pina irgendwie schön, dass wir da gemeinsam irgendwas produzieren, was mit ihr zu tun hat, was für sie ist, was eine Wertschätzung ist. [Es] hat keiner dran gedacht, wo läuft der Film dann oder welche Preise kriegt der dann. Das war nur noch die Zugabe, quasi.

Ricardo Viviani:

Nicht nur der Film, dann kommt eine Spielzeit mit London, wo 17 Stücke // zehn in London mit zwanzig Aufführungen // in der Spielzeit [gemacht wurden]. 17 verschiedene Stücke wurden gespielt. Das ist auch eine riesige Leistung.

Robert Sturm:

Da waren ein, zwei Spielzeiten, da haben wir auch gemerkt, es ist eigentlich zu viel. Wir haben es natürlich geschafft, (lacht) und auch alle Vorstellungen in sehr schöner Qualität. Es war nicht auf Dauer. Das war ein bisschen die Folge, weil wir jetzt keine Uraufführungen mehr gemacht haben und dass es besser ist zu arbeiten, als nicht zu arbeiten. Und dann war [es] halt [so], statt dieser langen Arbeitsphasen an neuen Produktionen kamen Aufführungsserien. Dann waren wir plötzlich bei 110, 120 Aufführungen in der Spielzeit, was wird dann auch wieder zurückgefahren haben, weil klar war, das halten wir nicht durch, das kann auch der Qualität auf Dauer nicht guttun. In der Phase ging es noch, weil auch die Energie /. Aber das hätten wir nicht wiederholen sollen, glaube ich. (lacht)

Ricardo Viviani:

Auch noch ein Highlight: Pina 40.

Robert Sturm:

Ja, da hatte ich mit die Leitung. Ursprünglich war die Idee nicht Pina 40, sondern eigentlich – also nicht so wie es dann gekommen ist – sondern eigentlich war der Gedanke, den ich hatte, auch in Gesprächen mit dem Land, die wir hatten – mit Peter Pabst und Dominique – (()), dass ein neuer Leiter des Internationalen Tanzfest NRW gesucht wird, nach Pina. Weil diese 3 Wochen mit Pina Bausch eigentlich das Internationale Tanzfest NRW war. Es hatte nur mit Pina einen anderen Titel, aber die Struktur und Finanzierung war ja die Fortsetzung davon. Es war der Gedanke, dass da eine neue Leitung bestimmt wird, und irgendwann kam zur Sprache, dass vielleicht im Herbst 2013 wieder ein Tanzfest NRW sein kann. Und da haben wir nur mal gesagt: Naja, dann denkt dran, das ist dann die 40. Spielzeit, da können wir vielleicht innerhalb des Festivals was Besonderes machen. Ob in Düsseldorf oder... – je nach dem wo es stattfindet. Irgendwie hat sich die Findung der Leitung nicht ergeben. Dann kam die Anfrage: Das Festival ist da, die Struktur ist da, das Geld ist da und ihr habt 40 Jahre. Und das war dann schon kaum mehr als ein Jahr davor, dass wir quasi die Aufgabe bekommen haben, macht eine 40. Spielzeit, eine ganz besondere, als dieses Festival. So war das eigentlich nicht gedacht. So, und dann haben wir erstmal überlegt, hauptsächlich eben mit Peter Pabst und mit Dominique zusammen: macht man wieder drei Wochen im Herbst? Das war die ursprüngliche Idee. Da hatten wir auch eine Runde [da]zu in Düsseldorf. Da saßen alle Intendanten von Düsseldorf, von Essen, die Kulturdezernenten der Städte. Da haben wir auch noch darüber gesprochen, dass wir da Arien wieder zeigen, oder / da waren ganz andere Ideen als das, was dann passiert ist, weil sich herausgestellt hat, dass man manche Sachen zeitlich gar nicht hinkriegt. Wie sind einfach zu nah dran. Weil die Spielzeit geplant war, wir hatten Tourneen, wie macht man jetzt? Pina hat normalerweise zweieinhalb Jahre auf ein Festival hingearbeitet, wir waren jetzt ein Jahr davor. Und da kam dann die Idee, dass wir anlässlich der 40 Jahre uns ein bisschen anders orientieren und nehmen Wuppertal als Basis – wir haben trotzdem ein paar Tage in Düsseldorf und Essen gemacht – und koppeln das an unsere schon längst geplanten Aufführungstermine. Die standen auch schon fest, wir konnten die Spielzeit nicht mehr verschieben, sonst hätte nichts mehr funktioniert. Da haben wir die Entscheidung getroffen, wir machen das in 4 Abschnitten, weil wir 4-mal in Wuppertal spielen und koppeln da die Veranstaltungen an. Ich glaube, Marc Wagenbach war es, der dann kam: Das ist ja Frühling, Sommer, Herbst und Winter, nur in anderer Reihenfolge, weil wir im Herbst anfangen. Das ist doch ein schönes Apropos. Und dann haben wir tatsächlich in den 4 Aufführungsphasen, wo wir die Bühne in Wuppertal reserviert hatten, eben auch mal andere Sachen gemacht. Das Programm von Pina 40 ist dann ein anderes Thema. Das kann man ja nachgucken. Allerdings war ein ganz wesentlicher Aspekt auch/ Hatte Peter auch Ideen, was er in Teilen verwirklicht hat mit den Installationen im Skulpturenpark. Aber er wollte eigentlich mehr in die Stadt, dass in leeren Ladenlokalen Ausschnitte aus Pinas Stücken überall laufen, dass wir so präsent sind. Da kam mir überhaupt eine schöne Idee, weil die Wuppertaler das Tanztheater zwar von der Bühne kennen und es lieben. Aber wir sind immer da. Und gleichzeitig kamen Tänzer und haben gesagt, wir würden gern auch irgendwas machen, kreativ sein. Und da sind wir auf die Idee gekommen, eben in die Stadt zu gehen. Denkt mal nach, was könnt ihr [für] kleinere Sachen machen, die wir an Orten zeigen, wo normal kein Theater ist. Dass man in die Stadt geht sowohl mit Tanz als auch dass wir einladen zu Gesprächen, wo man einfach zuhören kann, wo Ehemalige erzählen oder Tänzer, die länger da sind. Also dass es mehr zum Anfassen wird und nicht nur Freunde kommen, die Aufführungen auf der Bühne machen. Auch die Freunde haben wir eingeladen, aber eher um über Pina zu reden und ihre Erfahrungen und nicht, um ihre Aufführungen zu zeigen, das hätte noch eine kompliziertere Planung gebracht. Und das ist ganz schön geworden, das hat sich ein bisschen – in dieser eigenen Form hat das was/. Ich höre es bis heute, dass das bei den Leuten sehr schön funktioniert hat, weil plötzlich das Tanztheater wirklich herangerückt ist. Auch mit diesen Film-Serien, die wir da [hatten], wo wir auf die vier Spielabschnitte verteilt die Stücke der 70er, 80er, 90er und 2000er Jahre in besonderen Fassungen oder in den Premierenfassungen gezeigt haben. Es hatte viel mit uns zu tun und ich glaube, es war selbst für uns für viele einiges zu entdecken, aus uns selbst heraus, ohne jetzt zu sagen, wir laden DIE Kompanie ein und DIE Kompanie und DIE Kompanie.



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