Interview mit Anne Martin, 20.2.2019 (2/2)
Die Tänzer:innen des Tanztheater Wuppertal mussten, wie an vielen anderen deutschen Theatern, auch in anderen Produktionen auftreten, insbesondere in Opern und Musicals. Pina Bausch gelang es schließlich, diese Bedingungen zu ändern und ihren Tänzer:innen die Freiheit zu geben, sich auf die tänzerische Arbeit zu konzentrieren. Anne Martin bezieht den Entstehungsprozess von Stücken sowohl auf den Puls ihrer Zeit als auch auf ihre persönlichen Erfahrungen. Gebirge, Viktor, Ahnen werden in diesem Interview kommentiert. Wie sich ihre künstlerischen Interessen entwickelten, nachdem sie die Kompanie verließ, ins Musizieren eintauchte und schließlich Tanz und Unterrichten neu entdeckte, wird im letzten Teil dieses zweiten Interviewtages beschrieben.
Das Interview wurde auf Deutsch geführt und ist in englischer Übersetzung verfügbar.
Interviewte Person | Anne Martin |
Interviewer:in | Ricardo Viviani |
Kamera | Sala Seddiki |
Transkription | Ricardo Viviani |
Permalink:
https://archives.pinabausch.org/id/20190220_83_0001
Inhaltsübersicht
Kapitel 1.1
Erinnerungen aus der AnfangszeitRicardo Viviani:
Between yesterday and today, what did go through your mind? [Was ging dir seit gestern durch den Kopf?]
Anne Martin:
Komisch, ich habe mich eigentlich an den ganzen Anfang hier erinnert. Wir hatten gestern ein bisschen gesprochen, dass wir Tourneen in Solingen, in Leverkusen, in Remscheid gemacht haben, aber wir haben auch – die neuen Leute, die da waren – in diesen Jahren in Opern mitgetanzt. Wir haben es nicht gemocht. Das erste Jahr war King Arthur von Purcell, wir haben die Erde gemacht, mit Säcken [getanzt]. Hans Pop hat die Choreografie gemacht und wir mussten mit Stoff, Leinen so bewegen, um das Meer zu machen (Geste Wellenbewegung). King Arthur war während Keuschheitslegende. Pina hatte schon angefangen mit Meryll, Jo und Jan zu arbeiten. Lutz, Beatrice und ich waren sauer, dass wir eine Oper mitmachen mussten. Dann sind wir zu Pina gegangen und haben gesagt: „Pina, wir möchten auch die Proben mitmachen.“ (lacht) Wenn ich denke, allein hätten wir das nie gewagt zu machen. Wir waren nicht gekommen, um Opern mitzumachen. Sie hat es sehr gut verstanden. Dann konnten wir die Probe mitmachen. Sie hat uns aber erklärt, dass in dieser Zeit die Verträge so waren, das wir auch die Opern [machen mussten]. Wir waren halt die Ballett-Kompanie, auch wenn es Tanztheater hieß, vom Opernhaus in Wuppertal. Später, ich weiß nicht, in welchem Jahr, war es die erste Oper von Richard Wagner, die er mit 19 geschrieben hat, die dauerte schon vier, fünf Stunden. Sie hieß Die Feen. Alle Frauen der Gruppe, auch Jo – Meryl war nicht mehr da – Monika Sagon, alle [mussten mitmachen]. Da war eine Insel, die nach vorne kam, und wir waren die Feen drauf. Sie wollten, dass wir Perücken, prae-rafaelitisch, tragen und wir haben es so gehasst und gesagt: „Nein, das tragen wir nicht.“ Und jedesmal, wenn wir Vorstellungen hatten, haben wir uns kleine Zöpfchen gemacht um den Kopf herum, den ganzen Tag, damit es abends so ist (Geste). Wir haben Karten gespielt, weil diese Oper so lang war und wir nicht die ganze Zeit dabei waren. Aber es war lustig, weil wir alle da waren, und da waren nicht so viele Vorstellungen.
Danach hat sie geschafft, dass wir alle einen Solisten-Vertrag hatten. Am Anfang, jedesmal wenn wir gesprochen oder gesungen haben, haben wir ein bisschen mehr Geld gekriegt für die paar Sätze, die wir sagten. Nach einer Weile hat es keinen Sinn mehr gemacht, weil es so kompliziert war. Dann hat sie die Verträge geändert und so haben wir nicht mehr die Operetten und Opern mitgemacht und es war alles inbegriffen in diesen Verträgen.
Kapitel 1.2
‚Tänzer als Choreografen‘Ricardo Viviani:
Damals war auch das Programm „Tänzer als Choreografen“, ein Sonderprogramm im Foyer in dieser Zeit? Hast du da auch was mitgemacht?
Anne Martin:
Ne, in dieser Zeit nicht. Später, viel später haben wir, jeder von uns, ab und zu Sachen mit anderen Leuten gemacht. Als ich in der Luisenstraße gelebt habe, da habe ich Peter Kowald getroffen. Er hatte keine Ahnung von Tanz. Wir haben angefangen, beide zusammen zu improvisieren. Wir hatten einen Saal in der Volkshochschule, wo wir arbeiten konnten, und wir haben uns getroffen und ein paar Vorstellungen gemacht, auch mit Joëlle Léandre, eine andere Bassistin, eine Französin. Das war sehr schön, aber er kannte die Gruppe gar nicht in dieser Zeit. Allmählich ist er in die Gruppe reingekommen, als er diesen Ort „ORT“ geschaffen hat, nachdem er ein Jahr lang in Afrika war. Es war ein Exchange [Austausch] mit Künstlern aus Deutschland, Musikern, Plasticien [Bildenden Künstlern], die in einem Dorf in Afrika ein Jahr gelebt haben und gesehen, wie sie da vor Ort was gemacht haben: Man trifft sich, man macht Musik, man kreiert das und das. Als er zurückkam, wollte er unbedingt einen Ort kreieren, wo jeden Samstag alle kommen konnten und irgendetwas machen konnten. Natürlich haben viele Leute vom Tanztheater improvisiert, kleine Soli gemacht. Peter Kowald kannte Musiker aus aller Welt. Wenn die Leute durch Deutschland fuhren, sind sie auch an diesen Ort gekommen. Es hat ein Jahr gedauert und dann war er pleite, aber wirklich pleite. Er hat mir gesagt: „Ich kann nicht mehr.“ Er wollte ein Jahr nur Konzerte machen, wo er mit seiner Beine Kraft hingehen konnte. Er hat sich selbst erlaubt, mit dem Fahrrad zu fahren mit dem Bass auf dem Rücken. Das hat er gemacht, ich habe Fotos davon gesehen – auf einem Pferd sogar einmal. Er hat sich bemüht, [vor Ort] was zu machen. Es war natürlich eine tolle Idee, als es vorbei war, haben alle Leute gesagt: „Ach, es fehlt uns, wir vermissen das, wir möchten weitermachen.“ Ich weiß nicht, was heute daraus geworden ist.
Anne Martin:
Ja, war es immer. Es war alles frei. Jeder konnte ein bisschen Getränke bringen, danach hat er die Getränke gebracht. Natürlich war schnell das Geld weg. Es war immer, immer voll. Es war toll.
Anne Martin:
Ab und zu, wenn wir da waren. Ich wohnte damals in der Luisenstraße, dann bin ich öfters hingegangen. Wenn wir da waren halt, wenn wir nicht auf Tournee waren.
Kapitel 2.1
Entstehungszeit Auf dem Gebirge ...Ricardo Viviani:
Kommen wir zu Auf dem Gebirge hat man ein Geschrei gehört. Wie war der Prozess? Wie ist man dazu gekommen, wie war die Entstehungszeit?
Anne Martin:
Wenn ich im Nachhinein daran denke, glaube ich, es war eine schwierige Zeit für alle, für mich auf jeden Fall und für Pina auf jeden Fall. Sie versuchte, von einem Weg weg zu kommen, den sie bis jetzt genommen hatte, wusste aber nicht wie. Für mich war es auch eine sehr schwierige Zeit, nach wieder Herzleiden [Liebeskummer], Hepatitis und so. Ich war auf einem Weg [abwärts], danach bin ich wieder hoch [gegangen], das passiert im Leben halt.
Ich war sehr nah bei Pina, wir haben trotzdem zusammen gearbeitet. Es war da, als ich diese Kassette mit Kriegsgeräuschen gebracht hatte. Es ist ein starkes Stück geworden für mich, ein Stück vom Schreien nach Leben – mit dieser Fläche mit Erde. Das war ein sehr tolles Stück.
Der Arbeitsprozess war immer noch mit dem Fragenstellen. Ich glaube, es gibt immer eine Zeit in dieser Gruppe, wenn man etwas anders machen möchte, etwas anders vorschlagen, aber man ist halt nur man selbst. (lacht) Pina hat auch sehr oft nicht die gleichen Fragen gestellt, aber in die gleiche Richtung. Zum Beispiel „Liebe suchen“ war eine Frage, die immer wieder kam. Natürlich denke ich jetzt, man konnte tausende verschiedene Sachen machen für diese Frage. Irgendwann fühlt man sich ein bisschen eng, das ist so. Still it is a very strong piece, I think. [Dennoch ist es ein sehr starkes Stück, denke ich.]
Anne Martin:
Das weiß ich nicht mehr, ich weiß sogar nicht mehr, in welchem Jahr das war. Saison 1983-84
Ich glaube, Jo hat sogar bei mir gewohnt oder wir waren ziemlich nah zusammen. Es war das Frühlingsstück, wir hatten nicht mehr Winterstücke. Wenn es ’84 ist, sind wir danach nach Venedig gefahren und nach New York.
Kapitel 2.3
Erste USA-TourneeAnne Martin, Ricardo Viviani:
Die erste Nordamerika-Tournee: Los Angeles und New York. Vielleicht reden wir ein bisschen darüber.
Anne Martin:
Von meiner Erfahrung habe ich New York als eine [kraft]spendende City gesehen. Das heißt, wenn man in dieser Stadt ist, gibt es Energie, die an diesem Ort ist. Wir haben Vorstellungen bei BAM gemacht, Harvey Lichtenstein war toll. Er sagte immer: „Terrific, it’s terrific“. (lacht) Wir haben allmählich Menschen getroffen und wir lebten daneben auch sehr viel. Wir sind nächtelang tanzen gegangen. Für mich war es, als ob das, was so stark in den Stücken war und vielleicht in meinem Privatleben nicht so toll war in diesem Moment – dann habe ich versucht daneben viel Luft zu bewegen. (gestikuliert) Weil es halt nur Luft bewegen ist am Ende.
Kapitel 2.4
Pina und New YorkRicardo Viviani:
Hast du von Pina gespürt, wie ihre [Empfindung war], weil sie mal in NY war, jetzt mit ihrer Kompanie. Was habt Ihr da [zusammen] erlebt?
Anne Martin:
Ich glaube, das war in diesem Jahr, dass wir zusammen mit Dominique in dem Studio von, ich meine, Trisha Brown waren. Paul Taylor und Manuel Alum haben wir da besucht. Wir haben dieses Leben da entdeckt und alle diese Menschen, die Underground-Sachen gemacht haben, wirklich mit Vital-Kraft. Ich glaube, in New York kann man nicht anders leben.
Kapitel 2.5
Global spielen, in Wuppertal kreierenRicardo Viviani:
Hast du das Gefühl, dass man mit all diesen Eindrücken in Wuppertal kreiert, aber in der Welt agiert?
Anne Martin:
Ich hätte das in dieser Zeit nicht so formuliert. In diesen Jahren ’83, ’84 haben viele Leute aus der Gruppe, Jean-François Duroure, Bénédicte Billiet – Héléna Pikon nicht, sie war in Barmen – wir haben im Luisenviertel gelebt und wir waren in diesem Café du Congo jeden Abend und da war Peter Kowald, Peter Brötzmann. Die haben diese crazy Musik gemacht. Eine Freundin von mir, die jahrelang Secretaire de Direction im Maison de la Danse in Lyon war, als sie bei uns zum ersten Mal nach Wuppertal kam, sagte sie: „Ich denke, ich bin in New York hier.“ Es war wirklich [brodelnd], kann man so sagen? Es gab viele kleine Orte, wo man crazy Musik gemacht hat. Peter Kowald hat immer Freunde [mitgebracht]. Er war in der Mongolei, er hat Sainkho Namtchylak kennengelernt, die Sängerin, die danach in Deutschland geblieben ist. Er kannte Musiker aus der DDR, die ihn eingeladen haben. Er hat japanische crazy Musiker [gekannt], einen Trompeter und einen Schlagzeuger, der einfach mit Metallblättern geschlagen hat. Ganz, ganz verrückte Leute. Wir schwammen in dieser Art Brausebad sozusagen.
Kapitel 2.6
Jede Reise bereichertAnne Martin:
Natürlich waren wir in New York als Tanzgruppe. Wir hatten keine Geldprobleme, wir fühlten uns da sehr frei. Die Leute, die ich wirklich näher kennengelernt habe, eine Tänzerin, die eine Freundin von Peter Kowald war, und eine andere Frau, die seit den 70er Jahren da war. In den 70er Jahren war SoHo ein ugly [häßliches] Viertel, wo die Leute in Lofts gelebt haben und unterrichteten und tanzten. Und wir dachten, die haben so einen Mut.
Ich glaube jede Reise, die man macht, wenn man wirklich nah an den Menschen ist und ein Land nicht folkloristisch und touristisch besucht, sondern Menschen trifft, ändert [einen] sowieso. Jedes Land hat mich auf jeden Fall bereichert, etwas hat sich geändert in meinem Verständnis von den Menschen, von der Welt. Es war schon so, als Französisch-Schweizerin nach Deutschland zu kommen, wo man viele Geschichten aus der Kriegszeit gehört hat, als man Kind war. Und dann hier zu sein und Menschen zu treffen wie Ilse und Dorothea Hackenberg. Viele Leute, die ich getroffen habe, haben unter dem Krieg gelitten. Man konnte nicht mehr die guten Franzosen und die schlimmen Deutschen machen, es hat sich immer mehr aufgemacht, dass die Realität, eine Realität – es gibt viele verschiedene Realitäten – viel subtiler ist. Dass es überall Menschen gibt, die irgendwie weiter leben müssen. Zurück zu deiner Frage, ich denke, dass jedes Land uns ein bisschen bereichert hat.
Kapitel 3.1
Pina Bausch und Tanz in FrankreichRicardo Viviani:
In dieser Zeit, in den 80er Jahren, sieht man Pinas Interesse an einer Gesten-Sprache, schon bei Nelken, noch stärker später bei Viktor. Wie war diese Entwicklung?
Anne Martin:
Schon bei Macbeth, bei Renate. Pina spricht sehr schön darüber in diesem 2006er Film von Anne Linsel. Dass sie immer gesucht hat, was wunderschön ist in jemandem, dass das rauskommt auf der Bühne, nicht immer eine gelernte Geste. Dann ist sie ganz tief in diese Richtung gegangen. Aber wie ich gestern schon erwähnte, gab es viele in Frankreich: Daniel Larrieu und andere. Viele Leute haben einfach die Gesten-Geschichte genommen, die Oberfläche davon, nicht: was bringt dich dazu, damit zu arbeiten. Der ganze Kontakthof ist darauf gebaut – das sind nur die kleinen Gesten zu sich und zu jemand anderem, aggressiv und dann als ob jemand da wäre und man hat die Erinnerung von der Haut in der Hand. Als ich in die Gruppe kam, war sie schon in dieser Art. Es ist für mich schwierig zu analysieren, weil ich es von innen gelebt habe. Was ich nur sehen konnte war, dass sie immer mehr aufgemacht hat.
Kapitel 3.2
Was Tanz kommuniziertRicardo Viviani:
Sehr interessant an verschiedenen Aussagen von Pina waren die Kommunikationswege: Was kommuniziert man in Bewegung, in Tanz, überhaupt zwischen Menschen.
Anne Martin:
Nazareth sagt wohl in Nelken: „Ich fing an zu tanzen, weil es mir leichter fiel als zu sprechen.“ Ich glaube, wir waren alle ein kleiner Teil von Pina, sie hat in jedem von uns einen Teil von sich selbst erkannt. Das ist aber wunderschön. Ich glaube, jeder Choreograf hat das. Allmählich fragte sie weniger von den Sechser-Phrasen, also sechsmal „Scheiße, es ist mir missgelungen.“, sechsmal „Rieche ich gut?“ und dann [hat sie es] mehr geöffnet. Eine Frage ist mir wie ein Block geblieben, weil ich nichts dazu finden konnte: „Etwas Positives wachsen lassen.“ Das war alles. Jetzt denke ich, es war so einfach, aber ich habe mich blockiert bei diesem Satz. Sie hat mehr und mehr die Fragen aufgemacht. Und die Leute gefragt – zum Beispiel Meryl in 1980 hat in ihrem ganzen Solo kleine Teile von verschiedenen Fragen. Jo in Walzer auch – es sind kleine Teile, die sie danach zusammen gestellt hat.
Anne Martin, Ricardo Viviani:
Für Viktor haben wir anders gearbeitet. Was war das Stück vor Viktor? (lacht) Gebirge vielleicht?
Kapitel 4.1
Trapez: Richtig machen oder fallenAnne Martin:
Nach Gebirge ich bin so tief runter gegangen. Eines Tages war ich in Paris mit Freunden und ich habe einen Trapezkurs gesehen. Ich dachte: “Das muss ich machen.“ Ich habe mir eine Zeit aus der Kompanie ohne Bezahlung genommen. Two Cigarettes wollte sie sowieso mit weniger Menschen machen. Ich habe in Paris, ich weiß nicht, zwischen einem und drei Monaten gelebt und dort Trapez geübt. Das habe ich geliebt, es war richtig machen oder fallen. Das war nicht kompliziert. Man musste die richtige Geste machen, sonst fällt man. Es war sehr schön, auch mit dem Schwung zu arbeiten. In der Zeit vorher hatte ich [Stimmarbeit] angefangen. Ich hatte immer eine ganz leichte Stimme, ich konnte leicht singen, ich mochte auch immer von Kind[esbeinen an] singen. Meryl hat Gesangsunterricht bei einer ehemaligen Sopranistin im Briller Viertel genommen und bin ich auch zu ihr gegangen. Sie sagte immer: „Ja, Sie müssen immer von oben lachen: Ah ha, ha, ha, haha.“ Sie war lustig, sie war ganz lieb. Ihr Mann war viel älter als sie, er war Dirigent. Aber ich fühlte mich eher eingeengt als was anderes und irgendwann habe ich mit Dorothea Hackenberg [Stimmbildung gehabt]. Sie und ihr Mann waren sehr, sehr nah an Rolf und Pina früher, sie haben ihnen wirklich geholfen – auch mit rechtlichen Sachen und saßen stundenlang im Restaurant. Sie hat Klavier- und Gesangsunterricht gegeben. Ich habe bei ihr zu singen angefangen. Es war sehr schön, weil sie wirklich über die [Knochen] gesungen hat, diese Vibration im Körper. Plötzlich war etwas, das angefangen hat, sich wieder zu öffnen.
Kapitel 4.2
Schwung und Großmutters ButterbroteAnne Martin:
Alles das [sage ich, weil,] eben als wir Viktor angefangen haben, ich zurückkam aus Paris. Ich hatte die ganze Schwung-Sache vom Trapez. Ich habe Pina gesagt: „Ja, ich habe das in Paris gemacht, willst du es sehen? Vielleicht können wir das im Stück machen.“ Das sind diese Ring-Sachen geworden, sehr schön. Diese Brötchengeschichte war eine Erinnerung von meiner Großmutter, die immer für uns nachmittags für den gouter [kleine Zwischenmahlzeit] Brot mit Butter und Marmelade vorbereitet hatte. In Viktor komme ich als erste, dann alle anderen Frauen am Tisch mit ganz vielen Brötchen drauf und Butter, also Margarine und Marmelade. Dann haben wir das dem Publikum geschenkt.
Anne Martin:
Und da war [noch] viel. Wir haben sehr eng zusammen mit Pina gearbeitet, auch die Tanzbewegungen, Héléna auch auf ihre Art und Weise. Es war eine sehr kreative Zeit, sehr schöne und starke Zeit. Ich habe dann mit meinem kleinen Akkordeon gespielt, zuerst ein französisches Lied von Fréhel (singt) „ou sont tous mes amants“, „wo sind alle meine Liebhaber?“ (lacht) Dann hat sie ein italienisches Lied gebracht. Oder andersrum? Wir hatten auch mit Jean-François diese Reihe (Geste mit Hände), das haben wir mit Jean-François gefunden. Das mit dem Brett, mit den langen Armen. Sie hatte gefragt: „Extra lange Arme“. Dann habe ich zwei Bretter genommen. Ja. „Irgendein Satz, den euch jemand einmal gesagt hat, und das hat euch fertig gemacht.“ Das war auch eine Erinnerung von mir, wo wir einen Abend mit meinem damaligen Liebhaber nach einer Fete im Schnee waren und er war ganz betrunken. Ich wollte ihm helfen und er sagte: „Geh weg, lass mich in Ruhe. Was willst du von mir.“ Alles, was ich da im Stück gesagt habe. Und sie hat mich [gebeten], das zu Rolando zu sagen und dann zum Publikum.
Ricardo Viviani:
Das machst du mit viel Power.
Kapitel 4.4
Frau im roten KleidAnne Martin:
Ja, ja. Und da waren wir in Rom, zwei Wochen oder drei Wochen. Ich habe Italien immer geliebt, ich habe sehr enge Freunde da. Als ich Hepatitis hatte und sieben Wochen im Krankenhaus war, habe ich nur von einer kleinen Straße geträumt mit Tisch mit weißer Tischdecke, Spaghetti und Rotwein in Italien. Das war sehr schön in Rom. Ich fühlte mich frei vorzuschlagen, was mir durch den Kopf kam.
Ja, ich habe lange, lange Zeit gebraucht, ich glaube bis Viktor, um eine Frage zu beantworten. „Ein kaputter Sieg“. Das war die Frage. Ich habe ein paar Sachen gemacht und gemacht und gemacht. Irgendwann nach mehreren Antworten hatte ich die Idee, dieses rote Kleid anzuziehen und die Arme hinter [dem Rücken zu verstecken] und das ist der Anfang vom Stück. Da habe ich was gelernt. Früher war ich immer [unsicher] geblieben: „Das ist doof, mach das nicht.“ Ich habe mich immer beurteilt, anstatt einfach das zu machen, was mir durch den Kopf, durch das Herz kam. Ich habe lange Zeit dafür gebraucht.
Jan Minařík war ein Genie in dieser Art, aber gut, er kannte Pina von Anfang an. Er hat immer alles gemacht, was kam. Danach war es natürlich viel einfacher. Anstatt zu denken: „Ne, ich kann das nicht machen, das ist doof.“ Einfach machen! Dann ist das weg und dann kann ich weitersuchen. Verstehst du?
Kapitel 4.5
Geschützter RaumRicardo Viviani:
Ja. Wie hat Pina geschafft, diesen Raum zu geben? Dieses Vertrauen [aufzubauen].
Anne Martin:
Es ist etwas, das man fühlt, das ist nicht etwas, das man beschreiben kann. Ich glaube im Nachhinein, sie hat ab und zu gespürt, wenn jemand – ich oder jemand anderes für ein anderes Stück – bereit war etwas aufzumachen, was sie vielleicht immer gesehen hat, aber was man nicht unbedingt selbst gesehen hat. Dann spürt man einfach zwischen ihr und uns oder ihr und mir, dass der Weg frei ist. Sie hat das geschafft, in uns das zu sehen, was in uns speziell ist sowieso – particulier [besonders], aber [auch zu sehen] irgendwann, dass man bereit ist, da weiter zu machen.
Ich habe mal eine Bewegung probiert, irgendwas erfunden, für mich war es erfunden. „Was ist denn das, was du machst?“ Ich sagte: „Ich weiß nicht, ich habe es gerade erfunden.“ Dann habe ich gesehen, dass es in Orpheus oder Iphigenia war. In Orpheus war es und ich hatte das Stück noch nie gesehen in dieser Zeit. Voilà.
Kapitel 4.6
Frau im roten Kleid 2Ricardo Viviani:
Diese Anfangsszene, die Frau mit dem roten Kleid mit dem Lächeln, als Darsteller ist es ein sehr mutiger Anfang des Stücks. Man geht center stage, in die Mitte der Bühne und strahlt. Wie war das für dich? Musstest du dich überwinden?
Anne Martin, Ricardo Viviani:
Nein, nein. Nach ein paar Jahren, was toll ist in dieser Arbeit, und ich probiere es auch so weiterzugeben: Wenn man etwas gefunden hat in sich und erlebt hat, das heißt, dass es da ist und man kann es wiederfinden. Und ich brauchte nur (Geste Lächeln): Ich bin da und ich strahle. Es war nicht spielen, es war etwas, das in mir wahrscheinlich auch war: dieses Strahlen, aber ohne Arme. Es kann auch so viele verschiedene Reaktionen [hervor]bringen. Manche Leute in Frankreich sprachen über diese Kinder, die keine Arme hatten, nach diesem Medikament. (Thalidomid)
Viele Reaktionen, aber für mich war es nur ein kaputter Sieg. Die Frage war auch sehr schön.
Kapitel 4.7
Wie funktioniert die Weitergabe davon?Ricardo Viviani:
Wie ist die Weitergabe so einer Idee, so einer Szene? Wie bringt man so was einer anderen Person bei? Hast du damit Erfahrungen gemacht?
Anne Martin:
Nur für 1980, weil ich noch hier in Wuppertal war. Sie [Pina] hat uns [gebeten, es aufzuschreiben]. Ich habe 1980 und Arien aufgeschrieben. Alles, was ich im Stück mache. Und das habe ich in ein paar Tagen Julie Shanahan weiter [bei]gebracht – aber Viktor nicht. Ich glaube, sie haben alle mit Video gelernt. Sie haben mich nie gefragt.
Kapitel 4.8
CoachingRicardo Viviani:
Was würdest du zu einer Person sagen, die diese Rolle spielen muss?
Anne Martin:
Irgendwann habe ich mit Breanna an dem Tanz von 1980 gearbeitet. Es sollte mit Héléna sein, aber sie hatte sich den Arm verletzt. Héléna ist toll, sie sagte: „Ich möchte am liebsten nur mit dir arbeiten.“ Ich habe noch in meinem Fleisch, in meinem Herzen (Geste: zeigt Bewegungen) all die Details, die in Pinas Stücken so wichtig waren. Zum Beispiel (tanzt). Das hatten sie nicht. Die machen einfach (Geste: tanzt). Das ist es nicht. Es war (tanzt und vokalisiert) und danach fällt es zu [einer anderen Bewegung ab]. Leider geht das ein bisschen verloren danach. Ich hatte erzählt, ich habe sogar einmal einen Tanz von Viktor – den Brauttanz, das mit dem weißen Laken – wieder gelehrt, sie hatten mir die Erlaubnis gegeben, für die 50 Jahre der Schule in Cannes. Ich wusste ein paar Bewegungen, aber nicht alles, die ganzen Kleinigkeiten wusste ich nicht mehr. Aber als ich das Video guckte, allmählich war alles irgendwie wieder da. Nicht im Bewusstsein, intellektuellem Bewusstsein. Dann kam es wieder alles. Die kleinen Bewegungen konnte man auf dem Video nicht richtig sehen.
Kapitel 4.9
Körper-GedächtnisRicardo Viviani:
Ist das eine Überraschung für einen selbst: „Oh, ich kann das noch.“
Anne Martin:
Ja, das ist schon schön. Das ist eine große Emotion. Ich habe das auf der Bühne getanzt und dachte: „Mensch, aber ich bin 20 Jahre älter, vielleicht klappt das gar nicht.“ (lacht) Es war wirklich ein Brauttanz, ich war damals jung und frisch und da war ich nicht mehr jung und frisch. Ich habe es gemacht und geliebt, wieder zu machen. Ich war sofort wieder in dem Stück. Einmal habe ich die Gruppe in Lyon gesehen. Ich war in der Kulisse, sie haben diese Reihe gemacht (tanzt: Nelken-Reihe). Ich hätte einfach zu ihnen rausgehen und ohne Problem das mitmachen können. So stark ist das. Hat mich ganz imprägniert, sozusagen.
Kapitel 4.10
GenderbewusstseinRicardo Viviani:
Der Brauttanz. Das bringt ein anderes Thema, über das viel gesprochen wird: Gender. Zwei Männer, rechts und links, und sie tanzt und ist sehr exponiert. Dieser Männer rauchen, sind mit irgendetwas beschäftigt, dann kommt plötzlich die alte Frau, will Zigaretten geben, aber sie hat ihre eigene. Für dich als Frau, mit heute wie damals einem Genderbewusstsein: die Rolle der Frau, die da präsentiert wird, [wie siehst du das].
Anne Martin:
Ich habe nie darüber [nach]gedacht. Es hat auch keinen Sinn. Zum Beispiel in einer Probe kamen die Männer mit dem Laken, ich hatte einen Teil der Kleidung vergessen, da bin ich schnell wieder raus. Sie sagte: „Gut, behalte das.“ Das ist im Stück geblieben, dass man kommt und man rennt wieder raus und holt sich ein Kleidungsstück. Für mich war es, ich will nicht sagen ein Leidensweg, aber ein Weg, den man machen muss. Ich habe das Stück nie gesehen, aber ich denke, wenn man dieses weiße Laken sieht und die zwei Männer, die das halten, das hat mit alten Traditionen zu tun, auch in Italien. Überall eigentlich, wo man das Laken zeigen sollte nach der Heirat. Aber in dieser Zeit habe ich gar nicht darüber nachgedacht. Es war eine Zeit, denke ich, wo ich nicht mehr unterdrückt werden wollte. Deswegen habe ich meine eigenen Zigaretten. Dieser Frauentanz war für mich wie zum Feld gehen und ackern. Als wir angefangen haben, habe ich immer gesagt: „Ja, Frauen, gehen wir zum Feld.“ (Geste: tanzt und vokalisiert). Das könnte ich immer noch tanzen.
Kapitel 4.11
Ja, neinRicardo Viviani:
Über eine Szene von Viktor haben wir noch nicht gesprochen: die Sequenz mit „Non“. Such a charming scene. [Wie ist es entstanden?]
Anne Martin:
Ach Oui! (Geste: tanzt und vokalisiert) "Non, non, non, non..." Wie so oft gab es kleine Gesten und große Gesten. Das (Geste) war bestimmt von Pina, anderes war vielleicht von mir, ich weiß nicht mehr. Sie hat mich [gebeten], was damit zu machen, weil ich zu einer Frage – ich weiß nicht mehr welche – „Wenn jemand zu mir kommt und ich sage immer ‚Nein‘“. Dann habe ich das so gemacht.
Kapitel 4.12
Musik sammeln und verwendenRicardo Viviani:
Ist die Musik später gekommen, ist der Tanz zuerst entstanden?
Anne Martin:
Du kannst mir vielleicht helfen. Waren wir schon mal in Palermo gewesen? Ich hatte durch einen sizilianischen Freund in Italien wirklich traditionelle Musiken gekriegt und Matthias Burkert hat immer gesucht. Wir hatten dieses (singt) sizilianische traditionelle Lied. Sie hatte immer einen kleinen Koffer mit ganz vielen Kassetten und sie hat Musiken mitgehabt, die sie manchmal jahrelang probiert hat, und irgendwann hat diese Musik ihren Platz gefunden. Das war in Viktor auch: Dieser wunderschöne Tanz von Héléna auf dem Boden. Das ist eine südamerikanische Musik, die sie schon vor ein paar Jahren ausprobiert hatte in anderen Stücken, aber in diesem Stück war sie dann richtig. Das war das erste Mal, dass wir in einer anderen Stadt gearbeitet haben.
Kapitel 4.13
KoproduktionRicardo Viviani:
Eine der genannten Koproduktionen mit Teatro Argentina in Rom.
Anne Martin:
Und ich habe mich auf Reisen immer gut gefühlt.
Kapitel 4.14
Unternehmungen in RomRicardo Viviani:
Zwei Wochen in Rom und die verschiedenen Aktivitäten, die man dort unternommen hat. Kannst du uns vielleicht über ein paar Orte erzählen, die ihr besucht habt?
Anne Martin:
Mir fällt gerade ein, dass Pina durch Leute einen Ort gefunden hatte, wo ältere Leute tanzen. Das hatten wir in mehreren Ländern, auch in Südamerika. Da waren wir einen Abend, haben getanzt und die älteren Männer sind gekommen und haben uns eingeladen. Und ich glaube, es ist im Stück ein Moment, wo wir mir älteren Männern tanzen. Solche Sachen waren sehr schön. Wir waren mitten in der Stadt und einmal hatte sie eine Frage gestellt, ich weiß nicht, ob ich das schon gesagt habe. Ich habe ein [gerupftes] Hähnchen gesucht (coughs) und irgendwas mit Kopfhörer gemacht und so (tanzt) mit meinem Hähnchen, das da so hing. (lacht) Es war ein bißchen – wie soll ich sagen? Makaber oder Trash. (lacht)
Anne Martin:
Es war das erste Mal in einer anderen Stadt. Natürlich gingen wir nach den Proben immer raus und haben Sachen geguckt oder auf der Straße erlebt. Wir hatten uns jeden Tag gesagt: „Ich werde jeden Tag fragen: ‚Was habt ihr heute in der Stadt gesehen?‘“ Zum Beispiel Urs und Melanie küssen sich und Urs guckt immer, ob die Ampel für die Fußgänger grün wird. Oder diese drei Frauen, die [Kellnerinnen] am Tisch sind, das hatten sie auch in der Stadt erlebt. Da war Elena Majnoni, die nicht mehr in der Gruppe war, nach Gebirge war sie weggegangen. Ihr Freund war – ist immer noch, denke ich – ein echter Römer voll Liebe zu seiner Stadt und er kannte (Gesten) so ganz viele komische Orte, wo er uns mitgenommen hatte. Kirchen, wo es drunter Krypten gab, wo die Mönche alles dekoriert haben mit [Knochen], Schädeln, sehr schön gemacht, aber das war ein bisschen makaber. Das konnte man besichtigen. Oder die Katakomben: Da ist ein kleiner Zug, man sitzt da und [fährt] runter, runter, runter. Mir war schlecht da unten, ich bin fast in Ohnmacht gefallen. Das waren komische Sachen aus Rom, die nicht die glänzenden Sachen sind, die man für die Touristen zeigt, sondern im Gegenteil vielleicht die Schattenseite von Rom. Das war sehr toll. Das war natürlich meine Erfahrung. Wir waren nicht immer die ganze Gruppe zusammen.
Ricardo Viviani:
Die Unterwelt der Prostituierten, der Transvestiten [habt Ihr auch besucht, oder?]
Anne Martin:
Wahrscheinlich, ich war selbst nicht da. Jean Sasportes hat das vielleicht erlebt. Ich weiß es nicht genau. Oder an diesem Ort, wo wir tanzen waren. Wir waren nicht überall alle zusammen.
Kapitel 4.15
Stückentstehung in der LichtburgAnne Martin:
Es war nicht so konzentriert wie in der Lichtburg, aber wir waren voll von den Erlebnissen da. Es war erstmals, dass wir einen Teil von einem Stück in einer anderen Stadt erarbeitet haben. Dann waren wir zurück in Wuppertal. Irgendwann sagte Pina, das meiste von dem Stück hätten wir in Wuppertal gefunden. Ich weiß nicht, ob es stimmt, auf jeden Fall fand sie, dass wir hier konzentrierter waren. Dann waren wir wieder in Rom, um das Stück zu spielen – Viktor –, und Fellini war da im Saal mit seiner Frau! Nach der Vorstellung sind sie mit Blumen auf die Bühne gekommen und haben uns Blumen geschenkt. Es war so eine Emotion, weil Fellini ein riesen, riesen réalisateur [Filmemacher] ist. Ich weiß nicht, ob Pina schon mit ihm gearbeitet hatte? Noch nicht. Dann wahrscheinlich hat er sie danach gefragt. Er hat Melanie auch sehr gemocht, diese sehr (Geste) generöse Erscheinung.
Voilá, das ist alles, woran ich mich richtig erinnere aus Rom. Natürlich, als wir zurückkamen und weiter gearbeitet haben, waren wir trotzdem noch bewohnt von diesen ganzen Eindrücken, von diesen ganzen Farben. Ich denke, jeder von uns hat irgendwas von sich selbst auch wie in [einer Art] Verwandtschaft gefunden. Auch die Rolle von Dominique ist unglaublich, aber sie ist nicht ganz genau aus Rom gekommen. Wenn er die alte Frau macht, ist es eher Süditalien. Deshalb fragte ich, ob wir schon in Palermo waren. Wir haben einen jungen Mann getroffen: Ferruccio Nobile Migliore. Da hatte ich angefangen zu singen mit meinem kleinen Akkordeon. Er ist Sizilianer, aber lebt in Rom und er hat für mich alte Lieder gefunden, alte Aufnahmen. Matthias Burkert hatte auch alte Aufnahmen von richtig traditionellen Liedern gesucht. Ich glaube, diese Musik, wo Jacob und Dominique tanzen, ist wahrscheinlich, wenn ich mich nicht irre – kontrolliere es, weil ich nicht ganz sicher bin – ist eine Musik aus Sardinien und diese „Veni la primavera …“ (singt), der Arbeitstanz der Frauen ist sizilianisch.
Kapitel 4.16
Chaos-SzeneRicardo Viviani:
Diese verrückten Szenen haben Titel. Könnten wir kurz über diesen Titel sprechen: Chaos? -- Ach mit den Brettern -- Ja, die Chaos-Szene.
Anne Martin:
Chaos-Szene. Ja, sie hat uns gesagt: „Mit Sachen, die Ihr schon gemacht habt: Ihr seid da und Ihr möchtet über die Bühne gehen, aber Ihr dürft den Boden nicht berühren, weil irgendwas auf dem Boden vielleicht giftig ist. Gefährlich auf jeden Fall.“ Deshalb haben wir alle zusammen was gemacht, wo wir [in Not sind]. Ich glaube ich hatte einen Tisch, ich weiß nicht mehr genau, und ein Brett … Dann probierte man in Not auf die andere Seite zu kommen, ohne den Boden zu berühren. Das war der Titel von diesem Moment. (hustet)
Ricardo Viviani:
Vielleicht ist es sehr weit hergeholt, aber in dieser Zeit 1986 war der Tschernobyl-Unfall in Russland und wir hier in Europa haben diese [Angst vor] radioaktiver [Strahlung]. Als Künstler ist man nicht isoliert von der Welt.
Anne Martin:
Klar. Ich muss sagen, Pina hat immer eine wahnsinnige Intuition und Instinkt gehabt [in Bezug auf das], was da war. War Tschernobyl schon vorbei? Dann haben auch viele Leute über mein Dasein ohne Arme (Geste) Verbindungen gesehen, die gar nicht von den Fragen kam. Jemand isst einen Salat in einem Moment – man durfte nach Tschernobyl nicht mehr Salat essen. Ja, klar, es hatte damit zu tun. Sie hörte die Nachrichten, sie las die Zeitungen. Leute sprachen mit ihr. Wir sprachen über die Sachen, die passierten. Sie war schon berührt vom Weltgeschehen. Aber, wie ich von Gebirge erzählt habe, sie hat immer einen Weg gesucht, der nicht direkt war. O.K., Tschernobyl war da, wir dürfen nicht mehr auf den Boden – dann hätten wir was gezielt gemacht wegen Tschernobyl. Aber bei der Frage (Geste) habe ich nicht mal daran gedacht, an Tschernobyl. Sie sagte nur: „Ihr dürft nicht den Boden berühren.“ Ich glaube, sie hatte nicht mal über ‚gefährlich‘ gesprochen. Ohne den Boden zu berühren, einfach so. In Not, also so schnell wie möglich.
Kapitel 4.17
Jan schaufeltAnne Martin:
Natürlich auch mit diesem wahnsinnigen Bühnenbild, Jan, der immer schaufelt und schaufelt. Es hat natürlich mit Graben zu tun. Aber Ende und Tod ist immer sehr präsent in Pinas Welt. Nicht unbedingt immer (Geste ‘Leiden’) so, aber Tod ist ein Teil vom Leben. …
Anne Martin:
Ahnen. Das war wieder so eine Passage, ein Durchgang. Für mich persönlich, weil ich kurz danach schwanger war. Ich denke, vielleicht für Pina auch. Dieses Stück war sehr geheimnisvoll. Sie hat viele Sachen über Erinnerungen von unserem Land gefragt, das Land, woher wir kommen. Ich hatte das mit Glöckchen und Maske gemacht, weil für mich die Schweiz viele Länder sind. Ich komme aus der französischen Schweiz, wo es nicht mehr viele Traditionen gibt. Aber in der deutschen Schweiz gibt es in kleineren Kantonen wie Appenzell noch sehr schöne Traditionen, wo zu Neujahr die Hirten Masken haben, um die bösen Geister wegzujagen, und die tanzen mit Glocken. Aber die Glocken, muss ich sagen, kamen aus Sardinien. Die hatte ich in Sardinien gekauft.
Kapitel 5.2
Maske – SisyphosarbeitRicardo Viviani:
Die Maske, die du gehabt hast, war aus den Anden?
Anne Martin:
Die Maske war aus Peru, aus der Südamerika-Tournee. Irgendwann während der Proben von Ahnen waren es minus zwanzig Grad und mir war so kalt und ich kam eines Tages mit dieser cagoule [Maske] aus Wolle, wo nur die Augen und der Mund auf ist. Pina fand das so toll, sie hat das sofort anprobiert. Dann blieb das im Stück. Dann wollte sie, dass ich eine Maske mit meinem Lächeln habe. Ich habe alles angeguckt, aber nicht mal probiert, dem Faden zu folgen, weil es sehr viele Sachen waren und diese Kakteen, die piksen eigentlich und die Lichter waren auch sehr mysteriös. Dieses Warten, wo ich die Wolle in Wasser [immer] wieder drehe und wieder ins Wasser – das war die Frage: „Etwas über Zeit“. Etwas, das mit der Zeit zu tun hat. Ich hatte einen Eimer mit Wasser und habe einfach die Wolle aufgerollt (Geste). Ich habe geguckt, ob vielleicht die Vögel kommen, aber da waren keine Vögel. (Geste – weiter Wolle aufwickeln) Wenn ich fertig war, habe ich ein Stück vom Faden gehalten und das andere wieder ins Wasser [fallen lassen] und wieder aufgerollt. Oder Julie Stanzak mit gemaltem Herzen [Geste ‚Im Gesicht‘], mit dieser Kerze. Und zum ersten Mal hatte sie keine Bewegungen gezeigt. Sie hatte gefragt – wir haben Bewegungen mit unserem Namen gemacht. Sie hat gefragt: „Könnt Ihr einen Satz mit eurem Namen?“ Du kannst so machen (Geste – schreibt mit einem Finger in die Luft) oder du kannst natürlich riesige Bewegungen machen mit deinem Namen. Dein Geburtsdatum – was noch, ich weiß nicht mehr. Dann wollte sie, dass alle meinen Satz lernen. Wir haben probiert, probiert, probiert. Dann hat sie die Musik gewechselt. Es war ständig am Wechseln. Ich war einmal zu ihr [gegangen] und habe gesagt: „Pina, ich habe das Gefühl, ich habe keine neue Idee.“ Sie hat nicht Nein gesagt (lacht). Sie war froh, dass ich das ehrlich gesagt habe. Ich war sehr unglücklich. Trotzdem haben wir Tanz gemacht. Auf der Bühne haben wir alle diesen Satz mit einer schönen Musik / Dann wurde die Musik wieder geändert. Dann einfach so schnell wie möglich. Dann war irgendwas mit – wie sagt man, wenn jemand schläft und läuft so? — Schlafwandeln — Dann war ich mit der Maske oben auf dem Balkon durchgegangen. Naja, dann hat sie das doch behalten für den Tanz am Anfang: den Tanz mit den Glocken. Ich habe auch das Stück nie gesehen, aber ich wusste, dass Antonio einen Süditalien-Tanz mit Messern da hinten tanzte. Ich fand diese rélation [Beziehung] (Geste) sehr schön. Alles war unterschiedlich komisch, aber ich glaube, dass es am Ende ein sehr schönes Stück war. (lacht)
Sie hatte vielleicht mehr traditionelle Sachen [darin]. Dieser Gang, den wir machen, wo die Frauen so machen (Geste), die Männer weiß ich nicht mehr – das ist auch Indianer-Sprache. Das ist Frau (Geste) und Mann weiß ich nicht mehr. Diese Reihen. Kyomi hat einen Tanz auf Büchsen gemacht. Der war vielleicht nicht so ästhetisch schön, aber am Ende war es doch ästhetisch, unheimlich schön. Sie hat eine riesige Windmaschine. Die Sachen sind über die Bühne geflogen. Es hatte auch mit der jetzigen Welt zu tun, denke ich jetzt. Ich habe daran nicht gedacht in dieser Zeit, aber jetzt doch. Am Ende hat sie eine Idee, dass Jan einen Sack voll Wasser trägt und dass ich in dem Sack bin. Ich sagte: „Ja, probieren wir.“ Das ging nicht. Dann hat sie so einen Glassarg machen lassen mit Wasser, da lag ich drin. Dann kam es nach vorne und ich habe Klavier gespielt. Alles komisch. Jemand hat mir in Paris gesagt: „Anne, jetzt musst du aus dem Wasser und tanzen. Du bist nicht mehr du selbst.“ Das war für mich trotzdem schön zu machen, man kann nicht immer (Geste) volle Power sein. Sie hat mich benutzt für das, was ich in dieser Zeit war. Und ich finde es schön, finde es genial von ihr.
Kapitel 5.3
Japan-TourneeAnne Martin:
Wir waren in Japan. Kyomi hat sie ein bisschen weiter nach vorne geschoben. Wir haben einen Tanz auf Stühlen, alle Frauen (Geste), [der] eher japanisch geht. Das erste Mal war wunderschön, wir waren in Tokio. Wir hatten auf der Bühne in dem größten Theater in Japan getanzt. Die Leute haben nicht applaudiert. Das ist in Japan der größte Respekt. Vielleicht hat sich das jetzt ein bisschen geändert. Wir haben es am Anfang nicht verstanden. Es war auch komisch, ich habe mich nicht gut gefühlt in Japan. Ich fand das ein hartes Land. Zum Beispiel durfte man im Hotel die Fenster nicht aufmachen. Sie haben noch mehr Verbindung zu Hierarchie als in Deutschland. Ein „Nein“ ist wirklich „Nein“. Ich denke heute, ich würde gerne wieder nach Japan [reisen], aber aufs Land gehen. Auch wenn viele Sachen sehr schön waren und die Vorstellungen waren auch sehr schön. Wir haben Sacre und, glaube ich, Kontakthof getanzt.
Anne Martin:
Nur Café Müller? Ist das dann danach – 1988?
Ricardo Viviani:
Ja. O.K., wir gehen dann zur nächsten Spielzeit. In der nächsten Spielzeit gab es keine neue Produktion.
Anne Martin:
Haben wir den Film gemacht?
Ricardo Viviani:
Ja, die [Dreh]arbeit für den Film.
Anne Martin:
Genau. Und mein ehemaliger Mann hat die zweite Kamera gemacht. – Detlef Erler – Sie hat auch keine Bewegungen gezeigt. Sie hat gesagt: „Irgend ein Objekt, das ihr sehr mögt – das beschreiben.“ Und ich habe so ein Fahrrad, irgend ein Objekt. Das ist ein Tanz geworden. Ich mochte diese Sache sehr. Wir haben viel gewartet. Gewartet auf einen Anruf – sie sagte vielleicht: „Morgen bist du dran oder bist du dran.“ Dann wartest du den ganzen Tag und wie es beim Film normalerweise ist, ist alles verspätet. Wir waren alle ein bisschen verloren, jeder in unserer Ecke. Dann fand ich den Film wunderschön. Sie hatten, ich weiß nicht, wie viele Stunden [gefilmt], die sie zu anderthalb Stunden runterbringen konnten, mehr als 200 Stunden oder so. Ich weiß nicht genau, vielleicht noch mehr.
Kapitel 5.6
Osteuropa-TourneeRicardo Viviani:
In dieser Spielzeit war auch eine Osteuropa-Tournee. Ostdeutschland, Dresden und /
Anne Martin:
Es war noch Ostdeutschland, es war 1988? Ja. Da waren wir in Ostberlin, in Cottbus, in Dresden – Leipzig weiß ich nicht mehr. In Cottbus war ein Freund von Peter Kowald, unglaubliche Figur. Peter Metag und Ulli Blobel in den 70er, 80er Jahren haben an den Radios ein bisschen gefummelt und haben Free-Jazz aus Westdeutschland gehört. In dieser Zeit war er serrurier, Schlosser. Ulli Blobel und er haben gesagt: „Wir machen ein Festival und laden Leute ein.“ Man muss sich vorstellen, er durfte kein Gramm Alkohol trinken, sonst konnte er nicht fahren. Er konnte kein Telefon kriegen, wenn er ein bisschen Alkohol im Blut hatte. Er hat nur Fanta getrunken. (lacht) Er hat immer alle Termine aufgeschrieben und geschickt, er war total zuverlässig. Man konnte ihm total vertrauen. Wenn er etwas geschrieben hat, dann war es auch richtig. Wir haben ihn dort getroffen. Er hat einen Hut gehabt und Sommer wie Winter nur ein Hemd, eine Jacke. In dieser Zeit hatte ich angefangen richtig Akkordeon zu spielen mit Liedern aus Süditalien und Frankreich. Er sagte: „Ich kann dich einladen, eine Tournee zu machen.“
Ostdeutschland war ziemlich „Zack! Zack!“. Wir wohnten im Interhotel, alles grau und kalt. Wenn das Frühstück um acht Uhr war und du kommst um eine Minute vor acht, sind die Türen noch nicht auf. Wenn du von der Probe um eins nach zehn abends zurückkommst, gibt es nichts mehr zu essen, nicht mal ein Stück Brot. Da haben wir immer morgens ganz viele Brötchen gemacht, um sicher zu sein, dass wir irgendetwas zu essen hatten. Wenn wir in ein Restaurant gingen, konnte man nicht einfach rein und sich hinsetzen. Auch wenn das Restaurant leer war, mussten wir warten, dass jemand kommt und uns einen Platz gibt. Das war wirklich diese Hierarchie, in dem Sinn, dass der Kleine den noch kleineren, den noch kleineren (Geste), den noch kleineren [unter]drückt, um seine Macht [zu zeigen]. Das war schlimm.
Auf der gleichen Tournee waren wir auch in Polen. In Polen war es anders. Die Leute haben wirklich nichts. Sie haben auf der Straße BHs verkauft wie in Peru. Seife, Streichhölzer. Aber sie waren so herzlich, trotzdem generös, es war sehr schön. Wir waren kürzer in Prag, es war irgendwie eine schöne Tournee.
Wir waren in Prag, es war sehr schön in Prag. Danach sind wir nach Italien gegangen?
Ne. War er [Jan Minařík] noch bei uns? Ich will nicht blöde Sachen sagen. Ne, ich war nicht oft mit ihm [unterwegs], ich weiß nicht mehr.
Kapitel 5.7
Das Frühlingsopfer in Delphi und in ItalienAnne Martin, Ricardo Viviani:
Und danach sind wir nach Italien, oder? Griechenland! Delphi.
Open air. Mittags war es so warm, dass man nicht proben konnte. Abends war es so kalt. Wir haben die schlimmste Vorstellung von Sacre gemacht. Die Erde war eiskalt. Stell dir mal vor: Ich komme und lege mich hin und ich fühlte meine Füße unten nicht mehr. 40 Minuten in Sacre rennen und meine Füße nicht fühlen. Beatrice, alle sind gerutscht, sind gefallen, es war furchtbar. Es war Vollmond, es war sehr mächtig, aber schwer.
Als wir zurückkamen, war ich schwanger. Ich denke, es war ein Zeichen von den Göttern. Ich wußte es noch nicht und wir hatten eine sehr schöne Tournee in Italien. Du musst mir helfen, es war Parma, Bologna, neben Venedig? [Cremona] Es war Ende Oktober, mit diesen unheimlich schönen Lichtern in Italien, in diesen rosanen Städten. Ich habe da Café Müller getanzt und 1980 und ich habe nie so gut getanzt in meinem Leben. Ich war schwanger und wusste es nicht.
Dann kamen wir zurück. Dann wusste ich, dass ich schwanger bin. Ich habe entschieden, das nächste Stück Palermo Palermo nicht zu machen, obwohl Pina gerne wollte, dass ich mitmache, auch mit meinem Bauch. Ich spürte, ich wusste es nicht intellektuell, dass irgendwas jetzt anders war. Ich war 36, ich war glücklich schwanger zu sein, ich habe 20 Kilo zugenommen, weißt du, nach einer Hepatitis. Ich war so froh.
Walzer hatte ich auch nicht mitgemacht, weil ich krank war. Two Cigarettes auch nicht, weil ich in Paris war. Aber das habe ich dann nicht mehr mitgemacht.
Kapitel 6.1
Musik, Wendung im LebenRicardo Viviani:
Dafür hast du dann intensiver Musik [gemacht]?
Anne Martin:
Ja, ich habe dann angefangen, viel mehr Musik zu machen. Ich habe bei Ausstellungen gesungen, für Lesungen von Raimund Hoghe, in einem Stück von ihm habe ich auch gesungen. Ich habe das geliebt und ich dachte, jetzt setze ich mich und singe einfach. Ich hatte das Gefühl, ich war wieder zuhause, weil ich, bevor ich getanzt habe, viel Musik gemacht habe. Dann nach Palermo 1989 war ich noch da. Dann habe ich das Stück nicht mitgemacht. Während sechs Monaten habe ich nicht mehr getanzt. Ich brauchte einfach (Geste – Luft). Ich habe mein Kind gestillt, gesungen – ich spürte, dass es nicht mehr meine Sache war. Sie hatte über Iphigenie gesprochen, aber ich wußte, das ich Iphigenie und Orpheus nicht mittanzen würde.
Kapitel 6.2
Zwei Jahre ohne UraufführungRicardo Viviani:
Das sind zwei Jahre, dass keine neuen [Stücke gemacht wurden]. O.K., da war intensive Arbeit am Film. Plötzlich waren da wieder diese ganz frühen Stücke – Iphigenie und Orpheus. Hast du ein Gefühl, warum das nötig wurde?
Anne Martin:
Ich hatte mich immer gefragt, wie Pina... Zum Beispiel hatte ich andere Choreografen gesehen wie Martha Graham oder Bejárt, die am Ende ihres Leben wieder ältere Stücke genommen [haben] oder irgendwie wieder ‚klassischer‘ geworden sind. Ich habe mich immer gefragt: „Was wird aus Pina, wie wird sie das erleben?“ Sie hat das erlebt, indem sie alte Stücke wieder genommen hat, weil sie in dieser Zeit gar nicht bekannt war. Sie hat überlegt, ob sie Sachen ändert, die im zweiten Akt von Iphigenie vielleicht ein bisschen kitschig aussehen können, aber sie hat gesagt: „Ne, das lass ich alles, wie es ist.“ Es ist in dieser Zeit, dass diese Kritik in Paris wie Malou sprach und sagte: „Endlich macht Pina etwas Neues, das schön ist (lacht), wo die Leute schön aussehen.“ Sie hat nicht mal ins Programm geguckt, dass es ein Stück aus den 70er Jahren ist.
Ich habe eine Probe mitgemacht, aber ich wußte, es ist nicht mehr meine Sache. Dann habe ich David gekriegt. Dann [bat] sie mich wieder Nelken zu tanzen. Da kam die große Katastrophe. (lacht) Weil ich 20 Kilo zugenommen hatte. In der Probe mit dem Akkordeon sagt sie: „Ne, das geht nicht mehr, Anne.“ (lacht) Ich hatte solche Brüste, solche Beine. Sie hat mir gesagt: „Du hast solche Beine.“ Ich sagte: „Die sind aber meine Beine.“ Zum ersten Mal habe ich es gewagt, Nein zu sagen. Ich glaube jetzt im Nachhinein, ich brauchte etwas Starkes, um raus zu gehen. Ich mochte ihre Arbeit immer noch, ich liebte sie, ich habe nichts zu sagen wegen der Arbeit, aber ich fühlte, dass mein Weg nicht mehr mit ihr war. Ich konnte nicht einfach so weggehen und sagen: „Gut Pina, das ist fertig.“ Ich brauchte einen Streit. Ich habe nicht daran gedacht, aber am Tag als wir gesprochen haben, war Matthias Schmiegelt da. Ich habe gezittert von den Haaren bis zu den Zehen, ich habe so gezittert. Ich habe nur „Nein“ gesagt, „ich gehe jetzt weg.“ Ich wollte meinen Vertrag abbrechen, schon im Dezember. Dann hat sie mich wieder getroffen mit Matthias Schmiegelt. Sie hat gesagt: „Anne, wir haben so viele Sachen zusammen erlebt.“ (emotional) Entschuldigung. „Bitte mach nur die Vorstellungen von Nelken bis zum Ende der Saison. Dann kannst du gehen.“ Und ich habe es akzeptiert, aber ich machte das mit dem Akkordeon nicht mehr (lacht). Wir sind noch nach Russland gegangen, ein paar Mal hier, auch nach Paris. Meine letzte Vorstellung war in Israel, in Cesarea dieses wunderschöne Amphitheater am Meer, und da hat sie mir gesagt (emotional): „Weißt du, wenn du irgendwann zurück willst – es wird immer einen Platz für dich geben.“ Es war so schön, weil sie mir da wirklich vertraut hat. Ich habe mir selbst nicht vertraut, aber sie hat mir vertraut.
Viele Leute sind zurückgekommen, haben ältere Stücke gemacht. Aber ich brauchte wirklich einen Schnitt. Ich dachte, ich will nicht mehr tanzen, ich will nicht mehr meine Beinen hochheben. Ich habe spät angefangen zu tanzen. Dieses Beine-Heben, Drehen, Springen war immer schwer für mich. Es war nie leicht, ich habe es gemacht, ich wollte es besser machen, aber es war nie einfach so wie für Leute, die von vier Jahren an angefangen haben zu tanzen.
Ich war sehr froh, nicht mehr zu tanzen, aber es hat nicht lange gedauert. (lacht) Dann hat man mich wieder eingeholt. (Geste – Heranziehen) Jedesmal wenn ich Pina irgendwo getroffen habe, war sie so was von herzlich und lieb, voller Liebe für mich – ich auch.
Kapitel 6.3
Wuppertal?Ricardo Viviani:
Natürlich hast du hier auch Familie gehabt und Wuppertal war immer ein Bezugspunkt, oder?
Anne Martin:
Vier Jahre danach, 1996, sind wir nach Südfrankreich gezogen. Für Detlef, meinen ehemaligen Ehemann, ging es besser als für mich, weil ich hier viel in kleinen ehemaligen Kirchen gesungen habe. In Deutschland gibt es in jeder Stadt kleinere Orte wie das Forum, das es hier damals gab, wo man ein kleines Konzert machen konnte. Aber in Frankreich, in Südfrankreich besonders in den Cévennen mochten sie lieber noch ein Fußballstadion haben oder einen DJ. Es war sehr schwierig.
Dann haben wir uns geschieden, Detlef ist zurück hierher. Wir hatten trotzdem immer noch Verbindungen durch die Kinder.
Kapitel 6.4
In Verbindung bleibenRicardo Viviani:
Wir haben über Iphigenie gesprochen, vom Ende eines Karriere[abschnitts], Pina hat noch weitere 20 Jahre Karriere. Hast du die Stücke gesehen nachher?
Anne Martin:
Sie hat mich einmal eingeladen mit meinen zwei Musikern für ein Festival zu singen, das war sehr schön. Dann habe ich natürlich Vorstellungen gesehen. Ich bin ab und zu auch nach Paris gegangen. Ich habe mit Malou ein Stück gemacht, wo ich sang mit dem Tamburin, ich habe mit Malou ein Duo gemacht in Venedig. Carolyn Carlson hat uns eingeladen. Ich habe mit Raimund Hoghe noch in einem Stück von ihm gesungen. Ich habe diesen Blaubart in Aix-en-Provence gesehen, weil es nicht so weit weg war.
Ich habe ein paar Jahre lang keinen Tanz mehr gesehen – ich wollte nicht. Dann allmählich habe ich wieder Stücke gesehen, nicht überall. Ich habe nicht alle neuen Stücke gesehen. Die Leute sprechen viel über die Arbeit, ich wollte nichts hören. Ich dachte, ich behalte, was ich mit Pina erlebte habe, und ich weiß, was das war.
Jetzt immer noch, wenn ich hierher komme, ist es wie zuhause. (hustet) Meine Familie. Ich denke, dass in Deutschland alles größer ist als in Frankreich. Man geht in eine Kneipe und die Kneipen sind hoch, in den Restaurants sind die Leute höher, alles ist irgendwie größer. Ich habe noch meine Freunde hier, auch wenn ich sie drei Jahre lang nicht sehe, sind sie immer noch meine Herzensfreunde.
Kapitel 6.5
PädagoginRicardo Viviani:
Wir haben schon darüber gesprochen, wie du jetzt als Pädagogin die Arbeit von Pina in dir verarbeitest und weitergibst, methodologisch. Wann bist du zum Tanz zurückgekommen?
Anne Martin:
Acht Jahre danach. — 1998, 1997 — Ja, dann hat mich Jean-Marc Urrea – er war in Montpellier, er kannte Jean-Francois Duroure, Mathilde Monnier gut – er rief mich an und sagte: „Ja, da ist eine neue Abteilung im Conservatoire in Montpellier für Schauspiel. [Ariel Garcia Valdes] sucht Leute, die etwas machen mit den Studenten. Ich habe an dich gedacht.“ „Gut, dann soll er mich anrufen.“ Weil wir auch sehr viele Geldschwierigkeiten da unten in Frankreich hatten. Ariel Garcia Valdes war ein Schauspieler von George Lavaudant. Er sagte mir: „Ich möchte, dass du drei Wochen lang kommst, jeden Tag soviel arbeitest, wieviel du willst. Du machst, was du willst mit den Studenten. Am Ende könnt ihr vielleicht was zeigen.“ Ich war terrorisiert (lacht), erschrocken, wieder etwas zu machen. Aber ich habe etwas gemacht. Ich habe da wirklich gemerkt, dass ich wie einen großen Sack mit allem hatte, was ich in den ganzen Jahren mit Pina geguckt habe. Ich habe immer in den Proben geguckt, was sie ausprobierte. Ich habe nie gestrickt oder gelesen. Ich habe immer geguckt. Ich fand das nie langweilig. Ich glaube, ich habe passiv gelernt. Ich habe keine Notizen gemacht, trotzdem habe ich viel gelernt dadurch.
Dann haben wir was gemacht. Es war wahrscheinlich sehr Pina Bausch-orientiert, aber gut. (lacht) Man muss immer davon ausgehen, was man kennt. Es gibt keinen Choreografen, Pina auch, dem einfach vom Himmel was ganz Neues [zugefallen ist]. Das habe ich sieben Jahre lang gemacht. Nachdem wir uns geschieden haben, war ich in Marseille mit den Kindern. Ich hatte ein Solo gemacht. Ich wollte gucken, was ist, wenn ich Bewegung und Stimme benutze.
Da habe ich dieses Solo gemacht und konnte das in Marseille zeigen. Dann hatte mich Michel Keleminis angefragt, in einer Oper zu tanzen. Die hieß Antinéa von einem Marseiller Komponisten für fünf Sänger und eine Tänzerin. Das habe ich gemacht, da habe ich wieder angefangen zu trainieren. Danach habe ich mein Unterrichtsdiplom [Pädagogin] in Frankreich [gemacht], weil ich keine Arbeit hatte. Ich wollte bleiben, ich habe alle Schulen und Konservatorien gefragt, ob ich da unterrichten könnte.
Kapitel 6.6
Alles kommt zusammenAnne Martin:
Wie für mich mehrfach im Leben kommt in einem Moment plötzlich alles zusammen. Ich habe einen ehemaligen Kollegen aus der Schule in Cannes getroffen und er war Direktor in der CSNMD in Lyon. Er sagte mir: „Ach, du tanzt wieder, ich dachte du tanzt nicht mehr. Du musst als eingeladene Professorin kommen.“ Dann kam ich, das Jahr danach. Inzwischen hatte ich in Amerika unterrichtet und ein Stück mit Studenten dort gemacht. Dann kam ich nach Lyon, das war im Dezember 2002. Ich sehe ein kleines Papier mit Wettbewerb für eine neue Professur. Ich sagte: „Philippe, du hast mir nicht gesagt, dass dieses Ding ist.“ Ich suchte etwas, wirklich. Er sagte mir: „Ja, du hast gesagt, du gehst wieder nach Amerika.“ „Ja, für sechs Monate, nicht für die ganze Zeit.“ „Das wäre toll, dann schreib schnell.“ Dann habe ich schnell geschrieben (hustet). Den Wettbewerb habe ich am 27. Januar gemacht, dann am 1. Februar habe ich angefangen. Das war wieder ins kalte Wasser springen. Das war trotzdem sehr schön. Schwierig am Anfang, aber sehr schön. Dann konnte ich einer Klasse für ein Jahr folgen, dann Workshops in Improvisation … Ich habe mich am Anfang wirklich bemüht, nicht Pina Bausch-Bewegungen zu machen. Leute sagten mir: „Ihr seid doof, Ihr kommt da her.“ Ich weiß nicht, es war ein bisschen Scham. Allmählich hatte ich auch Jean Cébron-Unterricht drin, ich habe ihn auch kommen lassen. Malou ist gekommen, hat einen Tanz für die Studenten gemacht. Kenji ist auch gekommen. Die Verbindungen sind geblieben und danach hatte ich keine Angst mehr. Und dann habe ich angefangen, meinen eigenen Weg dadurch zu suchen. Das ist sehr schön.
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